Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
werden. Weißt du, warum?«
Sternmuschel runzelte die Stirn.
»Das ist wirklich schwierig zu beantworten. Der große Fluß im Süden von uns, der Schlangenfluß, bildet jetzt die Lebensader der Langschädel. Wie eine Schlange fließt er durch ihre Welt, und viele Clans meines Volks leben heute südlich von ihm. Aber warum der Name Schlange?«
»Hexen werden als Schlangen bezeichnet«, flüsterte sie. »Wie Schlangen verschmelzen sie mit der Umgebung, sie sind lautlose, räuberische Wesen, die in der Nacht jagen.«
»Du bist eine kluge Frau«, sagte er. »Mehrere Tagesreisen vom Gebiet des Viele-Farben-Clans nach Südosten gelangt man zu einer Festung auf einem Berg. Das Gebiet gehört heute den Plattformpfeifen.«
»Ich weiß davon.«
»Aber im Südosten davon erstreckt sich das Gebiet des Natternclans.«
»Plattformpfeifen sind dort nicht willkommen. Eigentlich ist dort fast niemand willkommen. Nicht einmal die Langschädel.«
Langer Mann nagelte sie mit seinem Blick fest. »Die Schlangengesellschaft hat dort ihren Mittelpunkt.
Als ganz junger Mann ging ich dorthin. Was ich dir jetzt sage, muß unter uns bleiben, denn wenn du es verrätst, werden die Schlangenleute dich töten. Wie die Giftschlangen kommen wir nachts, so daß du den Todesboten nie sehen wirst.«
Gefangen in seinem Blick, versuchte sie zu blinzeln.
»Auf einem Bergrücken über dem Natternfluß liegt eine riesige Schlange. Die Legende erzählt, daß Erster Mann mit der Bestie kämpfte. Sie biß ihn in den Knöchel, und Erster Mann schwebte vier Tage lang zwischen Leben und Tod. Mit jeder Morgendämmerung kam eine neue Vision von der Zukunft der Welt. Am fünften Tag fand Erster Mann wieder zu seiner Stärke und kämpfte mit der Schlange.
Aber inzwischen hatte das Schlangengift sich mit dem Blut von Erster Mann gemischt, und keiner konnte den anderen töten.
Schließlich brach die Schlange den Kampf ab und traf mit Erster Mann eine Abmachung: Ich werde nicht mehr mit dir kämpfen, Erster Mann. Du kannst mich nicht vernichten und ich dich nicht. Deshalb will ich einen Vertrag mit dir schließen. Die Schlangen sollen klein werden und Jäger der Dunkelheit und der Niederungen sein. Läßt man sie in Ruhe, werden sie auch die Menschen in Ruhe lassen. Werden sie belästigt, schlagen sie zurück. Ich, die Große Schlange, werde auf diesem Bergrücken liegen, und manche Menschen werden sich zu mir hingezogen fühlen.
Ich werde sie verschlingen und ihre Seelen verzehren, und sie gehören mir für alle Zeit.
Erster Mann nahm das Angebot der Großen Schlange an. Seit diesem Tag kriechen die Schlangen auf dem Bauch und jagen in den Niederungen. Wenn sie gestört werden, verschwinden sie meistens, werden sie aber in die Enge getrieben, schlagen sie zu - wie es ihr Recht ist. Auch die Menschen haben den Vertrag eingehalten. Wie ich als junger Mann.«
»Bist du ein Mitglied der Schlangengesellschaft?«
»Ich bin einer ihrer Ältesten.« Langer Mann nickte. »Ich besitze die Macht der Großen Schlange. In dem Ei, das sie im Maul hält, wurde ich vorbereitet. Bei meiner Initiation verschlang sie mich, und ich ging meinen Weg durch ihren Leib. Ich ging den Weg der Sterne, des Mondes und der Sonnenwenden, der durch die Windungen ihres Leibs gekennzeichnet ist. Am Ende schied sie mich aus, und ich ging durch das schneckenförmige Labyrinth in die Welt zurück.«
»Ich verstehe nicht, was du sagst.«
»Hoffentlich verstehst du es nicht. Ich sollte dich überzeugen, daß ich die Maske täuschen kann. Also gut. Die Macht der Großen Schlange strömt in meinen Adern. Du mußt verstehen, Sternmuschel, daß die Maske mächtig ist, gewiß, aber ihre Klugheit ist besiegbar. Ich werde einen Nebel zaubern, durch den sie nicht sehen kann; ein Ablenkungsmanöver. Wir werden sie von einer ungeschützten Seite angreifen.«
Ein Zauberer, ein Hexer! Ein Wesen in der Schwebe zwischen Dunkelheit und Licht. Die Schlange brachte den Tod oder sie hauchte Sterbenden Leben ein. Geben und Nehmen. Wem dienst du, Magier?
»Du bist ein Mensch, der Furcht einflößt.«
»Ich bedaure, daß du dies erfahren mußtest.« Er wandte sich ab und ging zum Wald. »Komm, hier zwischen diesen Bäumen finden wir die Ruinen alter Häuser. Hier lagen einst fruchtbare Felder, die von Männern und Frauen bestellt wurden. Hier hofften, liebten und empfingen sie, hier brachten sie ihre Kinder zur Welt; hier wurden sie begraben. Der Wald hat sich das Land zurückgeholt. Vielleicht haben die
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