Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
Die Leuchtleute erhellten den Strand so, dass jede Muschel, jedes Blatt einen Schatten warf und unheildrohende Gestalten durch die Bäume an der Küste zu tanzen schienen.
Regenpfützen schimmerten in jeder Mulde.
Schote stand schweigend eine Weile neben Muschelweiß und folgte dem Blick seiner Tochter durch die Regenschleier der Küste entlang.
»Du hast Wachen aufgestellt, warum versuchst du nicht, etwas zu schlafen?«
Muschelweiß blieb reglos stehen. »Ich kann nicht schlafen, Vater. Ich liege einfach da und starre zur Decke. Hier bin ich nützlicher.«
»Irgendwelche Anzeichen von Feinden?«
»Nein.«
»Auch im Dorf ist alles ruhig. Wenn nicht so ein komisches Stinktier bei Sonnenuntergang ins Dorf gekommen wäre und alle in die Flucht gejagt hätte, dann wäre überhaupt nichts vorgefallen.«
Schotes Blick glitt über die kohlschwarze und silbrige Landschaft, über jeden auffällig geformten Lichtflecken, den die Wolken durchgelassen hatten, über jeden bewegten Palmwedel und jede Baumkrone, in deren Geäst sich feindliche Krieger versteckt haben konnten. »Ich habe mein Atlatl dabei. Hab gedacht, ich bleibe eine Weile bei dir, um mit dir zu wachen.«
Muschelweiß drehte sich nicht um, aber ihre Augen verengten sich. Sanft erwiderte sie: »Ich will nicht, dass du lange hier bleibst. Dieser Regen frisst dir das Mark aus den Knochen.«
»Nun ja«, sagte Schote, »mein Mark hält das eine Weile aus.« Er stellte seine Speere vor sich auf und zog sich die Kapuze fest um seinen faltigen Hals. Er spürte bereits, wie die Wärme aus seinen Muskeln wich. »Du solltest dir keine Gedanken machen«, sagte er warnend. »Vielleicht wollten sie plötzlich einen Hirsch jagen, oder ein Wal wurde angespült, und sie haben sich etwas mit Fleisch versorgt. Sie haben nur einen Tag Verspätung. Das ist doch nichts. Also weißt du, wenn ich früher im Krieg bei einem Spähtrupp war, da haben wir oft -«
»Vater!« Muschel weiß atmete tief aus und wieder ein. »Tauchvogel hätte uns einen Läufer geschickt, wenn sie sich nur verspätet hätten. Irgendetwas …«, die Stimme versagte ihr, »irgendetwas ist da geschehen.«
Schote blickte in seine halb volle Teetasse und konnte die Seelen der Leuchtleute sehen. Welche wohl Donnerwolke war? Wahrscheinlich eine der Sterne in diesem Haufen, sie wollte immer Leute um sich haben. Sie redete gern. Er nahm einen Schluck von dem fruchtigen Tee und reichte Muschelweiß die Tasse. »Wenn du die ganze Nacht hier draußen bleiben willst, dann bringe ich dir etwas zu essen.
Stacheljunge und ich haben Katzenfisch gebraten. Wir haben zwei in deine Schale gelegt und ans Feuer gestellt, damit sie warm bleiben. Kann ich dir sonst noch etwas bringen?«
»Ich habe keinen Hunger, Vater, ich -«
Ein heiserer Schrei ließ sie beide erstarren.
Jemand schrie: »Muschelweiß! Muschelweiß, wo bist du?«
Im ganzen Dorf sprangen die Leute von ihrem Lager auf und liefen auf den Wald zu, wo wirre Stimmen durcheinander klangen. Muschelweiß rannte zum Wald. Als sie durchs Dorf lief, stürzten Leute auf sie zu, die Gewänder windgebläht, und stellten schreiend Fragen. »Was ist los?« verlangte Muschelweiß zu wissen. »Was ist geschehen?«
»Im Wald«, sagte jemand. »Schwarzigel hat nach dir gerufen, er hat einen verwundeten Mann gefunden -«
»Tauchvogel?« schrie Muschelweiß.
Schote spürte, wie eine Hoffnung ihr Herz erfüllte. Sie drängte sich durch die Menge und verschwand zwischen den Bäumen.
Schote eilte durchs Dorf, so schnell ihn die schmerzenden Beine trugen, und folgte ihr. Eine Menschentraube hatte sich inzwischen um Schwarzigel und Muschelweiß gebildet. Sie beugten sich über jemanden und versperrten ihm den Blick auf das Gesicht eines Mannes.
»Wer ist es?« fragte Schote, als er sich durch die Menge drängte. »Tauchvogel?«
»Nein«, sagte Schwarzigel und richtete sich auf. »Es ist Eulenfalter. Schwer verwundet. Ich weiß nicht, wie er noch so weit laufen konnte.« Sein rundes Gesicht war von Angst gezeichnet.
Muschelweiß kniete sich neben ihren Sohn, und Schote hockte sich auf der anderen Seite nieder, um den jungen Mann, dessen Tunika bis hinab zum Schenkel mit verkrustetem Blut befleckt war, zu untersuchen. Der Speer war glatt durch ihn hindurchgegangen und hatte nur ein Loch mit geronnenem Blut hinterlassen, wo er den Schaft abgebrochen und herausgezogen hatte. Schweißnasses schwarzes Haar klebte an seiner Stirn und den hohen Wangenknochen. Er blinzelte zu Schote
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