Vorzeitsaga 07 - Das Volk der Blitze
man fand sie überall. Teichläufer war bei der Rangelei in weniger als zehn Herzschlägen unterlegen. Er konnte genauso wenig kämpfen wie ein Atlatl benutzen. Großmutter Mondschnecke meinte, Teichläufer werde seine Unbeholfenheit mit zunehmendem Alter bestimmt verlieren. Rotalge betete, das möge bald geschehen, bevor Teichläufer so viele Beulen am Kopf hatte, dass er einem Alligator oder einer Schnappschildkröte glich.
»Rotalge!« Teichläufer winkte ihr und eilte mit wehender Robe den Hang hinauf.
Das Sonnenlicht fiel durch die Zweige und besprenkelte den Pfad mit goldenen Rauten, als sie ihm folgte und dabei vorsichtig um die großen Feigenkakteen herumging. Oben angekommen, sah sie Teichläufer am Boden liegen und die gegenüberliegende Seite beobachten. Er rief: »Rotalge, bist du sicher, dass das der richtige Pfad ist?«
»Natürlich«, antwortete sie. »Da drüben steht der alte, ausgebrannte Baum.«
Teichläufer wandte sich um. »Bei diesem schwarzen Fleck?«
»Der Fleck ist der Baum, Teichläufer.«
Er blinzelte. »Oh!«
Sie schüttelte den Kopf und kam mit einiger Mühe zu ihm; der Untergrund war ausgedünnt, und riesige Kiefern, Hickorybäume und Eichen hatten sich mit ihren Zweigen zu einem vielfarbigen Mosaik über ihrem Kopf ineinander verhakt. Gelbe Blätter kreiselten vom Himmel herab. Rotalge schob sich die Keule an ihrem Gürtel auf den Rücken und legte sich auf die feuchte Laubmatte neben Teichläufer.
»Wenn du dich ganz still verhältst«, murmelte Teichläufer, »dann hörst du sie von hier aus.«
Lauschend neigte er den Kopf, sein weißes Haar wischte über die Blätter.
Rotalge konzentrierte sich. Aus dem Wald drangen alle möglichen Geräusche. Eichhörnchen keckerten in den Baumkronen über ihnen, verschiedene Vögel zwitscherten, und Frösche quakten.
»Was oder wen höre ich?«
Teichläufer sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Hörst du das nicht?«
»Ich höre Gänseschnattern, einen Eichelhäher plappern …» Die Stimme versagte ihr, als eine blaue Schlange um einen Eichenstamm herumglitt und direkt auf sie zukam. Sie erstarrte. Die Schlange war länger als sie beide zusammen und hatte einen rötlichen Kiefer und fast schwarze Schuppen.
»Sie ist nicht giftig«, flüsterte Teichläufer.
»Aber sie ist so …«, sie schluckte schwer, »sie ist so groß. Sieh doch, wie groß sie ist.«
Teichläufer lächelte sie an und drehte sich zur Schlange um. »Hallo, Großvater«, sagte er. Die Schlange hielt inne und ringelte sich dann zusammen, als hätte seine sanfte Stimme sie beruhigt und in Bann geschlagen. »Schon gut«, fuhr Teichläufer fort, »wir jagen heute keine Schlangen, sondern den alten Hundszahn. Hast du ihn gesehen?«
»Hundszahn!« Rotalge fuhr herum und starrte ihn an. »Was -«
Teichläufer hob die Hand und hieß sie schweigen.
Die Schlange züngelte noch einmal und glitt, Eicheln beiseite schiebend, zum Teich.
Rotalge packte den Stoff über ihrem hämmernden Herzen. »Das war eine Warnung, Teichläufer! Hast du den Ausdruck ihrer Augen gesehen? Die Schlange im Himmel hat sie gesandt, um uns zu sagen, dass wir ins Dorf zurückkehren sollen, bevor es zu spät ist.«
»Zu spät?« fragte er. »Zu spät wofür?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht haben es die Geister da unten nicht so gern, dass wir sie sehen wollen.
Vielleicht brechen sie uns das Genick oder ertränken uns oder -«
»Aber Rotalge«, sagte Teichläufer besänftigend, »hörst du denn nicht, wie sie uns rufen, wie sie uns willkommen heißen? Selbst wenn sie es wollten, würde Hundszahn sie nicht lassen. Er erwartet uns, und er hat fast so viel Macht wie die Sonnenmutter. Hundszahn will, dass wir mit Tante Finne reden.
Er sagt -«
»Wovon redest du?« Mit offenem Mund starrte sie auf ihren Bruder. »Tante Finne starb vor einem halben Mond, bei einem Überfall von Kupferkopf.«
»Ja«, erwiderte er nüchtern, »aber ihre Stimme ist doch lebendig.« Teichläufer grinste wieder, stand auf und lief mit wehenden weißen Haaren den Hügel hinunter.
Rotalge konnte sich nicht rühren.
Tote Stimmen und Hundszahn! Beides erschreckte sie. Aber vielleicht, dachte sie, war Hundszahn noch das Schlimmere von beiden. Man wusste, dass er Menschen, die er nicht mochte, in abstoßende Dinge verwandelte, in Meerschnecken oder Schlick.
Beim letzten Halbmond war er, in Lumpen gekleidet, in ihr Dorf gekommen, hatte die Geistältesten zusammengeholt und ihnen eröffnet, er sei gerade von einem
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