Liebe, lebenslänglich
VORWORT
Manchmal bemerkt man seinen Irrtum auf den ersten Blick. Wie dieser Freund von mir, der in seiner Jugend viel Existentialismus gelesen hat. Als er Vater wurde, erwartete er ein Wesen ohne Spuren und Vorurteile. Doch als er in die blauen Augen des Neugeborenen blickte, Minuten nach der Geburt, sah er, dass er sich getäuscht hatte: Da war eindeutig jemand zu Hause; jemand mit eigenem Willen und eigener Sicht. »Im Grunde blieb mir nichts anderes übrig, als dasselbe zu sagen wie Fürst Rainier von Monaco«, sagte der Freund. »Der empfing nach dem Formel-1-Grand-Prix den Sieger in seinem Zelt. Und egal, wer gewonnen hatte, Fürst Rainier begrüßte ihn immer mit denselben Worten: ›Ich freue mich ganz besonders, dass Sie es sind.‹«
Das ist das Drama der hier versammelten Geschichten in einem Satz: Zwei Personen treffen aufeinander und bleiben lebenslang verbunden.
Ich habe bei Recherchen noch nie so viele Tränen gesehen wie in den Begegnungen für dieses Buch. Es waren mehr Tränen von Seiten der Eltern als der Kinder, mehr von Seiten der Mütter als der Väter. Es waren Tränen der Rührung, aber noch mehr Tränen der Trauer.
Eine Familie ist kein sicherer Hafen, sie ist ein Wagnis. Wenig ist vergleichbar mit den Verletzungen, die man sich da zufügen kann. Das liegt an der Unkündbarkeit der Beziehung. Man kann zwar brechen mit seinen Eltern, aber Vater bleibt Vater und Mutter bleibt Mutter. Man kann sie nicht ersetzen, so wenig wie man einen Sohn oder eine Tochter loswerden kann. Kein Wunder, wird zwar oft gekämpft, geflüchtet, sich beklagt – und dann doch wieder geliebt. Komplette Ablehnung zwischen Eltern und Kindern ist selten. Nur einer meiner Gesprächspartner hat den Kontakt mit seinem Vater abgebrochen und bemüht sich darum, ihn wie irgendeinen unsympathischen Mann zu sehen. Alle anderen halten aneinander fest.
Oft wird mit psychologisch subtilen, aber umso wirksameren Waffen gekämpft. Etwa wenn eine Mutter ihrem Sohn alles bietet, was ihn fördern könnte, er diese Angebote aber als Übergriffe versteht und als Aufforderung, mehr aus sich zu machen. Oder wenn der pubertierende Sohn vor den Augen seiner erschöpften Mutter die Wäsche zusammenlegt, weil er spürt, dass sie seine Hilfe als Vorwurf empfinden wird.
Die Sicherheit der Beziehung zwischen Eltern und Kind hat schöne Seiten und gefährliche: Keine andere Beziehung im Leben lässt es zu, sich so wenig auf den Standpunkt des Gegenübers einzulassen. Sogar gute Freunde fordern einen in dieser Hinsicht kaum heraus. Wer sich über seinen Vater oder seine Tochter beklagt, muss kaum mit harten, genauen Fragen rechnen.
So war es nicht einfach, Mütter oder Väter mit ihren Töchtern oder Söhnen zu finden, die bereit waren, getrennt über ihre Beziehung Auskunft zu geben. Nicht nur hieß es, das sei zu privat. Ein häufig genannter Grund war auch, dass man zuerst den anderen direkt mit seinen Erinnerungen konfrontieren müsste. Die hier Versammelten beweisen also Mut, auch wenn sie zum Teil unter geändertem Namen auftreten. Denn sie stehen zu ihrer Geschichte und öffnen sie zugleich für den Blick des Gegenübers.
Keiner meiner Gesprächspartner blieb gleichgültig während des oft sehr langen Interviews über den Vater, die Mutter, den Sohn oder die Tochter. Stets ging es auch um die eigene Person. Stets schwang die Frage mit, wie man werden konnte, was man ist, was man genetisch ge- oder vererbt hat, und was durch Erziehung weitergegeben wurde. Die Eltern suchen bei ihren Kindern, die Kinder bei den Eltern nach Spuren des Eigenen. Dazu kommt fast immer die Frage nach den Fehlern. Viele Eltern sehen sich stark in der Verantwortung für das Lebensglück ihrer Kinder. Und die Kinder sehen die Eltern als Mitverursacher ihrer Probleme.
Die Geschichten in diesem Buch zeigen, wie schwer es ist, in der Erziehung den richtigen Weg zu finden. Faustregeln helfen nicht weiter, gefragt ist Urteilsvermögen. Meist geht es um das richtige Maß an Druck, Erwartungen, Gehorsam, Schutz, Geborgenheit, Lob, Freiheit, Kontrolle, Vertrauen. Mal klagten die Kinder über ein Zuviel, mal über ein Zuwenig, und oft relativierten sie sich gleich im nächsten Satz.
Was mich überrascht hat, ist, wie unterschiedlich es zwischen Eltern und ihren Kindern zugeht. Und wie unterschiedlich gut Eltern und Kinder zusammenpassen. Manche können sich harmonisch aneinanderschmiegen. Sie stützen, stärken und ergänzen sich. Andere sprechen nicht dieselbe
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