Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
war, hat Schlangenhaupt sie schon besucht. Ich weiß nicht, woher er es weiß - aber er weiß es!« Nachtsonne schüttelte verwirrt den Kopf.«Wie ist das möglich? Wenn keiner von uns etwas wußte « »Darum geht es jetzt nicht mehr, Nachtsonne«, rief er und bedauerte es auf der Stelle. Er schloß kurz die Augen und zwang sich, die Ruhe zu bewahren. »Er hat ihr Fragen über Lanzenblattdorf gestellt und sie bedroht. Er habe sie in Verdacht, sagte er, daß sie seine uneheliche Halbschwester sei. Verstehst du, was ich sage. Um der Götter willen, Nachtsonne - er hat den ersehnten Beweis, um dich hinrichten zu lassen. Du mußt hier weg! Nicht unbedingt mit mir zusammen, Nachtsonne, aber du -« »Ja«, sagte sie und starrte ihn unverwandt an. »Ich verstehe.«
Sie wandte sich ab, schritt langsam durch ihr Zimmer, um aus dem Fenster zu sehen. Die Stützsäule funkelte in der Nachmittagssonne in bernsteinfarbenem Glanz. Das Adlernest auf der Spitze war leer, vermutlich jagten die Eltern im Canyon. Sie hob den Blick, um zur Canyon-Wand hinaufzuschauen, und ihr langes Haar fiel ihr über den Rücken, die grauen Stränge schimmerten weißlich gegen ihr bläulichpurpurnes Kleid.
Eisenholz hatte den Atem angehalten. Er atmete weiter und kreuzte die Arme über der Brust. Er ließ ihr Zeit nachzudenken.
»Dein Leben steht auch auf dem Spiel«, sagte sie sanft, ohne sich umzudrehen. »Wann gehst du?« »Heute nacht. Ich werde Maisfaser in der Dämmerung treffen. Dann greif ich mir mein Bündel und verschwinde. Ich habe keine Lust, die Ältesten zu sehen. Diesmal haben sie keine andere Wahl als -« »Eisenholz.« Nachtsonne wandte sich um. Ihr schönes Gesicht war von der Sonne überglänzt, die dunklen Augen schimmerten. Eine seltsame Gelassenheit hatte Besitz von ihr ergriffen. »Ich will nicht leben, wo es heiß ist. Laß uns nach Norden gehen, in die Berge.«
Nach kurzem Zögern, lange genug, um die Bedeutung ihrer Worte in sich aufzunehmen, schritt Eisenholz durch das Zimmer und nahm sie so fest in die Arme, daß die Luft aus ihren Lungen gedrückt wurde. Er hielt sie wortlos eine Weile fest und sagte: »Wir müssen warten, bis es völlig dunkel ist. Nordlicht wird Spannerraupe ablenken, wenn wir bereit sind. Ich habe das schon alles mit ihm besprochen. Allerdings hat er geglaubt, es ginge nur um Maisfaser und mich, aber « Nachtsonne wich vor ihm zurück. »Maisfaser könnte bleiben, Eisenholz. Sie hat das Recht dazu. Wenn sie die Position der Ehrwürdigen Mutter von Krallenstadt annehmen will - meine Schande berührt sie nicht.«
Eisenholz' Blicke schössen in alle Richtungen, während er nachdachte. »Ich werde mit ihr darüber sprechen.« Er schaute zu Boden. »Nachtsonne, ich möchte zuerst mit ihr sprechen… allein. Ich habe nicht die Absicht -«
»Natürlich, Eisenholz«, unterbrach sie ihn. »Du hast dich viele Sommer lang um sie gekümmert. Das ist dein Recht. Aber wenn du mit ihr gesprochen hast… könntest du sie vielleicht auf mein Zimmer bringen? Oder könnten wir zusammen zu Abend essen? Irgendwas?«
Er nickte. »Natürlich. Und dann …«
Nachtsonne sah ihn so ernst an, daß er verwirrt zurückwich. Sie standen sechs Handbreit auseinander und blickte sich starr an. Ein merkwürdiger Ausdruck veränderte ihr schönes Gesicht. »Was ist los?« fragte er. »Habe ich etwas gesagt -«
Sie hielt sich die schmalen Finger vor den Mund und schaute ihn an, als wollte sie einem feindlichen Häuptling ein Ultimatum auf Leben und Tod stellen. »Du wirst das niemals bereuen, Eisenholz. Ich weiß, ich habe dir in der Vergangenheit viel Kummer bereitet, aber ich liebe dich mehr, als ich es jemals sagen konnte. Ich verspreche dir: Ich werde dich glücklich machen.«
Er blieb ganz still und starrte sie an.
Als ihr Mund zu zittern anfing, trat er vor, umarmte sie und drückte sie fest an sich. Erst nach einer Weile merkte er, daß die Wärme in seinem Haar nicht von ihrem Atem, sondern von ihren Tränen kam.
Er küßte sie sanft auf die Stirn. »Solange ich bei dir bin, kann ich alles und jedem trotzen. Aber nun zur Sache. Wir müssen Pläne machen …«
42. K APITEL
Eisenholz versuchte vergeblich, sich zur Ruhe zu zwingen, indem er seine Blicke auf dem Land ruhen ließ. Es war die Zeit, in der der Nachmittag allmählich in den Abend überging; Schatten krochen über den Canyon, füllten die Spalten und zeichneten die Konturen der Wassergräben nach. Ein bogenförmiger Sonnenlichtstreifen hing wie ein
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