Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
es ist mir wichtig, daß du mich verstehst; ich hatte keine Wahl. Maisfaser, ich hätte alles getan, um dich bei mir zu behalten - außer dein Leben oder das deiner Mutter aufs Spiel zu setzen.« Er änderte seine Stellung, um mit untergeschlagenen Beinen vor ihr zu sitzen, und schaute ihr in die Augen. »Das waren die zwei schwierigsten Dinge in meinem Leben: zuzulassen, daß dich Nordlicht in der Nacht deiner Geburt aus meinen Armen nahm, und täglich Nachtsonne zu sehen, sechzehn Sommer lang, ohne sie berühren zu dürfen. Aber zumindest wußte ich euch beide in Sicherheit.«
Maisfaser betrachtete ihn durch ihre langen Wimpern. »Aber Eisenholz, wenn du und Nachtsonne euch so sehr geliebt habt, warum seid ihr dann nicht einfach geflohen? Ihr hättet doch bestimmt einen sicheren Ort zum Leben gefunden, wo ihr mich hättet aufziehen können.«
»Die Pflicht, Maisfaser, die Verantwortung.« Er war bedrückt. Das zerbrechliche Gefäß seines Herzens hatte diese Gefühle nie aushalten können. Er konnte dem Tod ins Auge blicken, ohne mit der Wimper zu zucken - aber diese Gefühle waren zu viel für ihn, diese schreckliche Mischung von Trauer und Ohnmacht. Maisfaser betrachtete ihn neugierig. »Ich habe Nachtsonne gebeten, mit mir wegzugehen. Aber sie ist nicht nur die Ehrwürdige Mutter von Krallenstadt, sondern auch die der Ersten Menschen. Die Frauen ihrer Familie, der Goldaugen-Familie, hatten die Ersten Menschen seit sieben Generationen geführt. Ihre andere Tochter, Wolkentanz, war damals drei Sommer alt und noch viel zu jung für dieses Amt. Nachtsonne hatte keine Wahl. An erster Stelle war sie ihrem Volk verpflichtet.«
Maisfaser steckte eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Nachtsonne hat also ihr Volk über dich und mich gestellt?«
»Nein. Sie hielt dich für tot, Maisfaser. Sie hat ihr Volk über mich gestellt.« Eisenholz hob einen Kiesel auf und warf ihn in den Graben. Er platschte im schlammigen Wasser auf und schickte silberne Ringe zu den Grabenrändern.
Maisfaser schaute nachdenklich ins Gras. »Eisenholz ? Ich - ich muß dich etwas fragen, aber es könnte dich verletzen, und ich will nicht -«
»Frag mich! Ich werde dir die Wahrheit sagen, so gut ich kann.«
Sie benetzte ihre vollen Lippen und schaute zu ihm auf. »Ich verstehe nicht, wie es geschehen konnte. Nachtsonne ist die ranghöchste der Ersten Menschen, und du bist ein Mann vom Bären-Clan. Wie war… Ich meine, bin ich hier in Krallenstadt gezeugt worden?«
Er schüttelte den Kopf. »So verwegen hätte nicht einmal ich sein können.« Ein schwaches Lächeln breitete sich über sein Gesicht. »Es geschah folgendermaßen: Bevor Krähenbart zu seiner Handelsmission aufbrach, befahl er mir, dauernd bei Nachtsonne zu bleiben und sie keinen Augenblick lang aus den Augen zu lassen. Wenn sie also auf eine ihrer Heilungsreisen ging, um sich um die Sklaven der umliegenden Ortschaften zu kümmern, mußte ich sie begleiten.« »Du bist mit ihr gegangen? Allein?«
»Was sollte ich tun? Mein Häuptling hatte es so befohlen. Glaube mir, ohne direkten Befehl hätte ich das nie gewagt.« Eisenholz hob sein Gesicht zur sinkenden Sonne. »Am siebenten Abend der ersten Tour lagerten wir östlich der Spinnenfrau-Kuppe. Wir brieten uns ein Waldkaninchen und aßen es gemeinsam, und dabei redeten wir und lachten. Es war so ein wundervoller Abend, fast unirdisch schön. Ich war erst einen Viertelmond mit ihr allein, Maisfaser, und war schon hoffnungslos in sie verliebt. Ich schwöre dir, ich hätte bestimmt jeden getötet, der damals versucht hätte, sie mir wegzunehmen. An jenem Abend haben wir uns zum ersten Mal geliebt, und ich glaube immer noch, daß du damals gezeugt worden bist. Möglicherweise war es auch später, aber das halte ich für weniger wahrscheinlich. Ich habe an jenem Abend etwas gefühlt, so als wäre ein neues Licht in die Welt gekommen.«
Maisfaser wandte sich nach Osten. Vater Sonne war hinter dem Canyon-Rand verschwunden, aber seine letzten schwachen Strahlen warfen einen weichen Lavendelschein über die Klippen. Von der Seite sah Maisfaser Nachtsonne noch ähnlicher - besonders der Nachtsonne in ihrem siebenundzwanzigsten Sommer, die er in Erinnerung hatte, mit langem schwarzem Haar und einem Funkeln in den dunklen Augen.
Maisfaser senkte den Kopf und fältelte das gelbe Kleid mit den Fingernägeln. »Ich - ich weiß nicht, was ich tun soll, Eisenholz.«
»Wie meinst du das?«
»Weiß meine Mutter, daß ich hier bin? Nordlicht
Weitere Kostenlose Bücher