Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
Jaguars Stimme klang drohend. »Die Weroansqua fragt sich schon seit einiger Zeit, was mit dir los ist.«
Sonnenmuschel hörte, wie Wilder Fuchs aufstand und mit schnellen Schritten zum Einlass lief.
Jaguar kniete nieder und legte mit liebevollen Händen das Fell über sie. »Hätte nicht gedacht, dass er es wagt herzukommen.«
»Was wird mit ihm geschehen?«
Jaguar seufzte. »Mädchen, er wird ein sehr unglücklicher junger Mann werden. Kein Clan wird ihm eine Zuflucht bieten. Er wird weit gehen und alles und jeden zurücklassen müssen, um seinem Ruf zu entfliehen.«
»Es war nicht seine Schuld.«
Jaguar schnaubte erbost: »Nicht seine Schuld? Er paarte sich mit einem unmündigen Mädchen. Er bat Rote Schlinge, die schon einem anderen versprochen war, mit ihm fortzulaufen. Er empfindet nicht einmal Abscheu vor sich selbst, nicht wahr? Er sollte vor Empörung über seine Taten krank sein, aber das ist er nicht. Er wird sich im Laufe der Zeit selbst einreden, dass er von Anfang an im Recht war.
Und nach einigen Jahren wird er sich sogar damit brüsten, dass er für ein paar Monate Rote Schlinge besaß.«
So unendlich müde war sie noch nie gewesen. »Ja,« flüsterte sie, »ich weiß.«
»Schlaf, Sonnenmuschel. Hier gibt es nichts, was deine Aufmerksamkeit erfordert. Außerdem musst du jetzt gesund werden, damit du nach Hause zurückkehren kannst.«
»Auf die Insel?«
»Nein«, sagte er und strich ihr das verschwitzte Haar aus dem Gesicht. Sie öffnete die Augen und sah sein Lächeln. »Ich bringe dich nach Hause. Zu deinen Leuten. Und wenn wir dort sind, werde ich mich wohl mal ein bisschen mit deiner reizenden Tante unterhalten. Ich entbinde dich von deinem Gelöbnis.
Sobald du gesund bist, bist du ein freies Mädchen.«
»Aber … du brauchst mich doch.«
»Ja, das stimmt, mehr, als du ahnst. Aber auf meiner Insel bin ich in Sicherheit. Allerdings würde ich mich sehr freuen, wenn du mich manchmal besuchen würdest … und mir vielleicht etwas Kürbisbrei bringst.«
Sonnenmuschel versuchte zu lächeln, aber bevor sie ihre Lippen bewegen konnte, war sie schon eingeschlafen.
Sieben
Jaguar winkte Süßholz zu, bevor sie im Einlass in den Palisaden verschwand. An diesem zweiten Tag der Sonnenwendfeier wurde sie von vier stämmigen jungen Kriegern auf einer Hirschfellbahre hinausgetragen in die Nachmittagssonne und die Freiheit. Als man ihr gesagt hatte, sie werde zu ihrem Volk zurückkehren und der Mamanatowick könne sie sofort Heimgeleiten, hatte sie keinen Augenblick gezögert.
Flache Perle feierte. Jaguar fühlte die Erde unter seinen Füßen beben, als die Tänzer schlurfend und stampfend das große Feuer zum Takt der Topftrommel und der Rasseln der Priester umkreisten.
Obwohl alle sangen, hörte Jaguar die hohe Stimme von Grüne Schlange heraus, der den rituellen Gesang zu Ehren von Erster Mann anführte. Es war eine Danksagung für das Leben der Natur, das er ihnen im vergangenen Jahr geschenkt hatte, und die flehentliche Bitte, er möge morgen seine Reise nach Norden beginnen.
Man hatte die Statue von Okeus auf einer Plattform aufgestellt, damit er die Feierlichkeiten beobachten konnte, und seine Muschelaugen leuchteten im schräg einfallenden Licht der Sonne. Er sah noch tückischer aus als sonst, als hätte er Einblick in Jaguars Seele und erblickte höhnisch die grausame Wahrheit, die dort verborgen war.
Jaguar schüttelte trübsinnig den Kopf, und der Anblick von Neuntöter, der sich seinen Weg durch die fremden Krieger bahnte, bedrückte ihn noch mehr. Die Gäste, die nicht mit den Bewohnern von Flache Perle tanzten, saßen um ihre Feuer herum. Der Häuptling blieb überall stehen, vergewisserte sich, dass sie alles hatten, was sie benötigten, lachte manchmal über einen Scherz und ging weiter.
Die Männer lächelten ihm zu, drückten ihm die Hand oder boten ihm von ihrem Essen an. Spielte Jaguar nur die Fantasie einen Streich - oder lächelten im hellen Sonnenlicht auch die Wächter? Der Duft von gerösteten Aronpilzen, Maisbrei und dampfender Walnussmilch überlagerte den noch süßeren Duft der Tabakpfeifen, die freundschaftlich geraucht wurden.
Endlich trat der Kriegshäuptling neben Jaguar und blickte über die Menge der Krieger und Tänzer. Er trug einen Federumhang, seine Kriegskeule war an seinem Schurz befestigt, der Köcher hing über seinem Rücken, und der berühmte Bogen lag locker auf seiner Schulter. Er hatte sich nicht nur eingefettet und die Haut mit Blutwurz rot
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