Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
bewundert dich mehr als jeden anderen. Du hast ihn zwar so verwöhnt, dass er zu nichts mehr taugt und jetzt ein unverbesserliches Ungeheuer ist, aber trotzdem hält er dich für den wichtigsten Menschen auf der Welt. Dafür hielt er dich jedenfalls, bis der Große Tayac auf der Bildfläche erschien. Jetzt will er die gleiche Tätowierung, dieses Muster mit den schrägen Augen, wenn er geschwärzt worden ist. Als ob die Muster des Tellmuschel-Clans nicht gut genug sind.«
Neuntöter lachte leise. »Ich werde mit ihm reden. Sag ihm, dass eine ordentliche Tracht Prügel auf ihn wartet, wenn er nicht auf seinen Onkel hört, auch wenn er die Frucht meiner Lenden ist. Und ich schließe einen Handel mit dir: Ich tausche Wildkaninchen gegen Weißer Otter ein.«
»Das tust du nicht.« Halbmond hob abwehrend die Hände. »Dein Samen hat nichts als Jungen in den Schoß von Weißer Stern gepflanzt und Gott sei Dank keine Töchter.«
»Mädchen sind gar nicht so übel.«
»Gar nicht so übel? Wer sagt das?«
»In welchem Haus wirst du denn wohnen, wenn du alt bist und deine Frau überlebst? Glaubst du, die Frau, die Wildkaninchen heiratet, wird dir erlauben, dir den Bauch voll zu schlagen, wenn dir die Zähne ausgefallen sind?« Neuntöter trommelte sich auf die Brust. »Aber sieh mich an. Ich kann Weißer Otters Gastfreundschaft ausnutzen und dann bei Glatte Rinde schnorren, und wenn die mich hinauswirft, gehe ich zu Kleine Muschel. Und wenn die es auch satt hat, mich durchzufüttern, und ich noch am Leben bin, gibt es immer noch Wasserreis. Siehst du den Vorteil, wenn man vier Nichten hat? Du findest immer ein Plätzchen zum Leben.«
»Dann werde ich dich als alter Mann verfluchen, dass du Weißer Stern keine Töchter gegeben hast, und weil es Deine Schuld ist, komme ich zu dir, um bei dir und deinen Nichten zu wohnen.«
»Abgemacht« Neuntöter schüttelte Halbmond herzlich die Hand. Sie lachten noch eine Weile miteinander und freuten sich über ihre unverbrüchliche Freundschaft und betrachteten das Geschehen auf dem Platz.
Neuntöter beobachtete die Leute, die ihrer Arbeit nachgingen, und hing seinen Gedanken nach. Sie hätte sich am Einlass noch einmal umgewandt und auf den Platz zurückgeblickt. Er drehte sich so weit um, dass er das Tor sehen konnte. Ja, sie hätte dort angehalten und zurückgeschaut. Was hatte sie gesehen?
»Wie war das?«, fragte Halbmond.
»Was sah sie?«, wiederholte Neuntöter. »Rote Schlinge, an jenem Morgen. Sie ging durch den Einlass hinaus. Stand dann genau hier, wo wir jetzt stehen. Was sah sie, als sie sich umblickte? Wenn ich nur mit ihren Augen sehen könnte! War jemand hier und sah sie fortgehen?«
»Vielleicht der Mann, der sie getötet hat.« Halbmond zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Kein Mensch wird es je erfahren. Die Toten sind tot, Bruder, und was sie wissen, stirbt mit ihnen.«
»Ja, natürlich.«
»Wildkaninchen will sich sein Haar wie der Große Tayac schneiden.« Halbmond verzog das Gesicht.
»Er will an den Seiten alles wegschneiden. Er ist noch ein Junge. Ich sagte ihm, wenn er durch das Huskanaw gegangen ist, kann er jeden Unsinn machen, den er will, aber solange er bei uns wohnt, hat er sich den Regeln des Tellmuschel-Clans zu fügen. Verlange ich zu viel ?«
»Er ist eben ein Junge.«
»Ja, ja, das ist er«, bestätigte Halbmond. »Er ist dein Sohn, und das im Übermaß. All diese Energie, und ich bin derjenige, der ihn in einen Menschen verwandeln soll und nicht in ein wildes Wiesel.«
»Wiesel sind großartige Jäger. Du brauchst dich nie darum zu sorgen, dass er hungert.«
»Wiesel sind wilde Kämpfer und blutrünstig obendrein.«
»Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Neuntöter versöhnlich. »Aber denk daran: Er braucht mich nicht anzuhören, ich bin nur sein Vater.«
»Ich weiß, aber ich glaube, dass er auf dich hören wird.« Halbmond schlug Neuntöter freundschaftlich auf die Schulter. »Deiner Frau wäre es sicher lieb, wenn es heute Abend nicht allzu spät würde, ich glaube, sie kocht etwas Besonderes für dich.«
»Danke, ich werde dort sein.«
Neuntöter blickte Halbmond noch für eine Weile nach und machte sich dann auf den Weg zum Langhaus seiner Schwester. Er hatte Weißer Stern vernachlässigt, aber schließlich gingen Familie und Clan vor. Seine Frau wusste es und hatte immer verstanden, dass er bestimmte Pflichten hatte. Er hatte Glück mit ihr gehabt. Seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht war ihre gegenseitige Liebe stetig
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