Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
»Sperling? Wach auf.« »Mmpf…«
»Sperling, draußen liegt Schnee. Mehrere Hand hoch!«
Sperling ließ ein erschöpftes Stöhnen hören. »Wo sind die Hütten der Nachtwanderer?« »Es schneit, du Tor! Ich kann nicht mal zwei Schritte weit sehen.«
Aschenmond kroch zu der kleinen dreieckigen Öffnung neben ihrem Lager und schaufelte mit den Händen den Schnee weg, bis sie ihren Kopf hinausstrecken konnte. Durch die Sturmwolken sickerte nur ein wenig graues Licht. »So weit ich schauen kann, sehe ich nur Schnee.«
»Aschenmond, ich bin völlig erschlagen. Mir kommt es vor, als hätte ich kaum geschlafen. Komm, lass uns noch ein wenig ausruhen.« Er kuschelte sich tiefer in seine Decken.
»Ich werde nicht weiterschlafen, und du auch nicht. Über dem Pfad liegen gewiss schon mannshohe Schneewehen. Selbst wenn wir jetzt sofort zu unserem Kanu aufbrechen, werden wir kaum vor dem späten Nachmittag das Wandererdorf erreichen.« Sie kroch zurück und begann ihre Decken einzurollen. »Komm, Sperling, du Faulpelz. Steh endlich auf. Sofort!«
Sperling blinzelte sich den Schlaf aus den Augen.
»Denk doch daran, wie sich der arme Polterer fühlen muss«, fuhr sie fort, während sie ihr Deckenbündel mit einer Schnur aus Lindenfasern zusammenband. »Das sollte dich auf die Beine bringen.«
»Ich habe die ganze Nacht von ihm geträumt«, erwiderte er mit leiser Stimme. »Seltsame, quälende Träume. Mein Geisterhelfer war an seiner Seite, sprach mit ihm, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten.«
Die Erwähnung seines Geisterhelfers erfüllte ihr Herz mit Kummer und brachte die Erinnerungen an Flints Tod zurück und an die schrecklichen Tage quälender Einsamkeit, die seinem Tod gefolgt waren. Ein seltsames, dumpfes Rauschen klang ihr plötzlich im Ohr, als hielte sie sich eine Schneckenmuschel davor, und sie verspürte das Bedürfnis, entweder in Schluchzen auszubrechen oder jemanden zu schlagen. Seit zwei Wintern versuchte sie schon, darüber hinwegzukommen, dass er sie im Stich gelassen hatte, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen.
»Ich hoffe nur, dass du dich nicht auf deinen Geisterhelfer verlässt, um Polterer zu befreien«, sagte sie bitter, »denn wenn du das …«
»Er ist ein Lehrer, Aschenmond, kein Erretter.«
Eine eiskalte Windbö fegte durch ihren Unterstand, zauste an Sperlings langem weißem Haar und besprenkelte sein Gesicht mit Schnee. Aschenmond beobachtete, wie eine glitzernde Flocke auf seiner gebogenen Nase schmolz.
»Wenn er ein Lehrer ist, warum bittest du ihn dann nicht, dir etwas Nützliches beizubringen? Wie man fliegt, zum Beispiel. Oder besser noch, wie man mit den Händen wedelt, um lästige Dinge wie Schneewehen schmelzen zu lassen.«
Sperling rollte sich auf die andere Seite. »Glaubst du wirklich, dass du noch hier wärest, wenn ich das könnte?«
Aschenmond schnürte ihre zusammengerollten Decken an ihrem Lederbeutel fest, stand auf und versetzte ihm einen kräftigen Tritt in die Seite. »Ich sagte, du sollst aufstehen!«
Sperling verzog das Gesicht. »Weißt du, ich bin viel herumgekommen und habe eine Menge Frauen kennen gelernt. Ich habe die Geisterwelten in den Himmeln besucht, Welten unter der Erde, ja sogar Welten, die auf den Rücken der Wolkenriesen reiten. Aber alle Frauen, denen ich in den verschiedenen Welten begegnet bin, waren freundlich und mitfühlend.«
Aschenmond nickte. »Ja, weil sie alle tot waren. Und wenn du nicht binnen zehn Herzschlägen aufgestanden bist, werden dir noch mehr von diesen freundlichen Frauen begegnen.« Sie zog sich die Kapuze über und schob sich seitlich durch die Schneewehe, die den Eingang versperrte. Der Schnee reichte ihr bereits bis zur Hüfte und türmte sich auf den Büschen und den schwarzen Ästen der Bäume. »Oh heilige Ahnen, es ist ja noch schlimmer, als ich dachte!« Dicke Schneeflocken wirbelten ihr ins Gesicht. Polterer kann dieses Unwetter nicht überleben. Unmöglich!
Aschenmond hatte dreizehn Kinder in ihren Armen gehalten, während sie im Sterben lagen - hatte sie gehalten und gewiegt, hatte ihnen Lieder vorgesungen, während ihr das Herz vor Kummer in der Brust zersprang. Nicht auch noch Polterer. Sie durfte ihn nicht sterben lassen!
Aschenmond duckte sich in den Unterstand und kroch zur Feuerstelle. Sie hatten am Abend zuvor dicke Holzscheite zu Kohle verbrennen lassen und anschließend die Begrenzungssteine in die Glut gerollt. Die heißen Steine hatten die ganze Nacht hindurch eine angenehme
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