Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
Horizont.
Aschenmond drehte sich um.
Weit draußen auf dem See erhob sich eine riesige schwarze Wolkenwand aus den Wassern, die langsam auf sie zu kam und die Sterne am Himmel verschluckte.
»Steh auf, Aschenmond. Schnell! Lauf zu den Bäumen.«
Sperling raffte seine Decken zusammen, schnappte sich seinen Beutel und rannte über die rutschige Fläche auf den Fichtenhain zu.
Aschenmond bückte sich, um ihre Decken einzusammeln, den Blick wie hypnotisiert auf den nahenden Wolkenberg geheftet. »Was ist das?«
»Ein Schneesturm!«, schrie er und winkte ihr hektisch zu. »Komm, schnell!«
Wolkenriesen segelten aus allen Himmelsecken herbei. Dicke weiße Wolken und kleine Wolkenfetzen, sie alle sammelten sich, um mit dem Sturm mitzuziehen. Als ihre Körper sich mit der schwarzen Wand vereinigten, wuchs sie noch höher in den Nachthimmel hinauf.
»Gesegnet sei Großvater Tagbringer«, wisperte sie, wie erstarrt vor Angst. »Die Wolken leben.« Als sie endlich ihre Decken unter den Arm geklemmt und sich den Beutel umgehängt hatte, war die Wand bereits über den halben Himmel gezogen.
»Lauf, Aschenmond!«, brüllte Sperling, der den Hügel schon erreicht hatte. »Der Sturm kommt mit Riesenschritten auf uns zu!«
Aschenmond rannte im Laufschritt über die vereiste Fläche auf die Schneewehen zu, die den Fichtenhain umschlossen, doch noch ehe sie sie erreichte, traf der Wind sie wie ein göttlicher Faustschlag, schleuderte sie zur Seite, zerrte ihr die Beine weg und riss ihr die Decken aus dem Arm. Sie versuchte sie noch zu fassen, doch sie entwischten ihr, flatterten davon, als wären ihnen Flügel gewachsen.
»Aschenmond«
Sperling stürzte auf sie zu, packte sie fest und zog sie auf die Beine.
»Halt dich an mir fest!«, brüllte er gegen den Sturm an. »Lass bloß nicht los!«
Sperling zerrte Aschenmond hinter einen wuchtigen Granitfelsen und drückte sie nieder; beide kauerten sie sich auf den Boden. Der Felsen bot ihnen zwar ein wenig Schutz vor dem schneidenden Wind, doch der Sturm fegte die Fichtenzapfen und Nadeln von den Bäumen und ließ sie unerbittlich auf sie niederprasseln.
Aschenmond stieß einen scharfen Zischlaut aus, als sie sich die Wange an einer spitzen Kante des Felsens aufriss.
»Leg dich hin!« Sperling drückte sie flach auf den Boden und warf sich mit seinem Körper schützend über sie.
Das weiße Haar fiel ihm in langen Strähnen über die Schultern und flatterte im Wind wie die Arme eines Traumtänzers. Durch den schimmernden Vorhang beobachtete Aschenmond, dass der Sturm die Zweige der Fichten ineinander verschlang und die dicken Flocken durch die Luft jagte. Springender Dachs stolzierte mit tänzelnden Schritten um Lahmer Hirschs Kopf herum. Der Bogen, der um seine Schulter hing, klopfte im Rhythmus seiner Bewegungen gegen seinen langen Bibermantel. Er hatte den Holzpfahl, auf dem der Kopf thronte, in die Mitte der Spuren von Blauer Rabe gesteckt. Augenscheinlich hatte der Verräter in der Nacht zuvor sein Kanu ans Ufer gezogen und an dieser Stelle kampiert. Der Kopf stand dort als Beweis für jeden, der daran zweifelte, dass es Springender Dachs gelungen war, die Spur seines Vetters ausfindig zu machen. Nicht dass das sonderlich schwierig gewesen wäre. Blauer Rabe hatte keinen Versuch unternommen, die tiefen Schneisen, die er in den Schnee getreten hatte, zu verwischen, was Springender Dachs sehr verwunderte. Vor vielen Wintern war Blauer Rabe ein geachteter Krieger gewesen. Wenn er den Jungen entführt hatte und mit ihm fliehen wollte, warum hatte er dann eine so gut sichtbare Spur hinterlassen?, fragte er sich.
»He«, wisperte er und kickte mit der Fußspitze Schnee in das halb verfaulte Gesicht. »Du hättest deine Spuren verwischt, oder? Warum hat er es dann nicht getan?« Springender Dachs spürte ein Prickeln, eine Handbreit unter seinem Herzen. Er hatte gelernt, das geisterhafte Lachen von Lahmer Hirsch wahrzunehmen. Seine Ohren konnten es nicht hören, wohl aber sein Körper. Es fühlte sich an, als würde er von einer Bärenkralle gekitzelt, scharf und unangenehm.
Noch einmal stapfte er um den Kopf herum. Während der letzten Hand Zeit hatte er einen kreisrunden Pfad in den Schnee getreten.
Dunkle Schatten tanzten über die Schneewehen, als seine Krieger neugierig die Köpfe reckten, um ihn zu beobachten. Sie hockten eingemummt in ihre Decken ein paar Schritte hinter ihm um das nächtliche Feuer. Die Männer rutschten unbehaglich hin und her, sie zuckten mit den
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