Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
und ich werden Kleiner Zaunkönig bewachen. Und ihr, schlage ich vor, legt euch jetzt aufs Ohr und seht zu, dass ihr etwas Schlaf findet. So bald werdet ihr dazu keine Gelegenheit mehr haben.« Damit drängelte sich Elchgeweih an den immer noch glotzenden Kriegern vorbei, ging zu ihrem Nachtlager und nahm sich eine warme Decke. Während sie Bogen und Köcher schulterte, begann sich die Menge langsam aufzulösen. Einige Männer hockten sich wieder ans Feuer, um die Reste ihres Abendessens zu verzehren, die anderen trollten sich zu ihren Decken.
Eichel trat neben Elchgeweih hin und sagte leise: »Er mag uns ja verraten haben, aber wir sollten trotzdem nicht vergessen, dass er uns zuvor zwanzig Winter lang treu gedient hat. Daher meine ich, dass er ein ordentliches Begräbnis verdient. Wenn du mir hilfst…«
»Selbstverständlich helfe ich dir.«
»Morgen Früh? Nach der Mahlzeit?«
Sie nickte und drehte sich wieder zu Blauer Rabe um.
Nur Springender Dachs stand noch neben dem Toten. Er hielt die Fackel hoch und brüllte: »Du Verbrecher! Du gemeiner Verräter! Das hast du mit Absicht getan!«
Er holte mit einem Fuß aus und begann wie von Sinnen auf den Toten einzutreten - in den Bauch, die Beine und ins Gesicht.
Dann senkte er, in ein irres Gelächter ausbrechend, die Fackel und zog sein Messer aus dem Gürtel. Die graue Steinklinge blitzte auf, als er Blauer Rabe an den Haaren packte und ihm das Messer an die Kehle setzte.
»Nein!« schrie Elchgeweih entsetzt, und ein Dutzend Schreie folgten dem ihren, als auch andere Krieger von Entsetzen alarmiert hochfuhren.
Eichel baute sich vor Springender Dachs auf und erklärte mit vor Erregung bebender Stimme: »Im Namen unserer ehrwürdigen Ahnen, Springender Dachs! Blauer Rabes Schädel ist keine Trophäe. Er war das Oberhaupt unseres Klans!«
Als das beipflichtende Gemurmel immer lauter wurde, ließ Springender Dachs das Messer sinken, versetzte Blauer Rabe noch einen letzten Tritt und stapfte dann wütend davon.
Elchgeweihs Blick wanderte zu Zaunkönig hinüber.
Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen. Sie hockte auf den Knien, die gefesselten Hände zu Fäusten geballt, und starrte Springender Dachs mit vor hilflosem Zorn blitzenden Augen hinterher. Gefleckter Frosch griff nach Maishülses Schulter, um sich aufzustützen. »Heilige… Geister«, keuchte er, völlig außer Atem, »ist das unser… Lager? Bitte… sag mir, dass wir… rasten. Ich kann es…kaum glauben…dass wir einen ganzen Tag und eine halbe Nacht… gelaufen sind!«
»Ja, das ist es«, sagte Maishülse und deutete auf die Lichtung vor ihnen. Dort brannte ein Feuer, um das herum verteilt die Bündel von neunzehn Kriegern lagen.
Die Männer waren bereits damit beschäftigt, ihren abendlichen Pflichten nachzukommen. Vier Krieger sammelten Holz, vier weitere bereiteten den Lagerplatz vor, gruben Feuerstellen aus und richteten das Kochgeschirr her. Sechs waren auf der Jagd oder beim Fischen, vier hielten Wache, und ein Mann hatte sich um die zahlreichen Bedürfnisse von Gefleckter Frosch zu kümmern. Fliegendes Skelett nannte sich der Mann mit dem hageren Gesicht und den hellbraunen, leicht geschlitzten Augen, der Maishülse um drei Hand überragte.
Maishülse war sich nicht sicher, ob er den Mann mochte. Doch die straffe Organisation des Klans der Schweigenden Krähe, die gefiel ihm. Etwas Ähnliches hatte er noch nirgendwo sonst gesehen. Wenn sie am Abend den Lagerplatz erreichten, meist weniger als einen Finger Zeit nach den vorauseilenden Kriegern, war die meiste Arbeit bereits erledigt. Die Leute von Gefleckter Frosch hatten Feuer entfacht, Wild erlegt, die Mahlzeiten vorbereitet und die Essgeschirre ausgewaschen. Das machte die Abende sehr angenehm.
»Komm mit, Gefleckter Frosch«, meinte Maishülse gutmütig und packte den fetten Arm des Klan-Oberhaupts. Fliegendes Skelett nahm den anderen Arm.
Die fleischigen Beine des gewichtigen Anführers wabbelten, als sie ihn auf die Lichtung führten und ihn auf einem der fünf Baumstämme niederließen, die die Männer als Sitzgelegenheiten um die Feuergrube gerollt hatten. Die Flammen knisterten fröhlich, blaue Rauchwolken schraubten sich in den Himmel, und über der Glut hingen bereits Töpfe, in denen es brodelte.
»Ich hatte ja… keine Ahnung… dass dieser Weg… so matschig ist!«, keuchte Gefleckter Frosch und fächelte sich mit seiner plumpen Hand Luft zu. Sein Elchlederhemd war schweißgetränkt, und auch auf seiner Stirn und der
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