Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
gefallen.« »Du kennst mich noch nicht einmal hundert Herzschläge lang, kleines Mädchen«, versetzte Silberner Sperling und verzog das Gesicht zu einer geschmerzten Grimasse, »und bist bereits davon überzeugt, dass ich lüge?«
Da mischte sich Aschenmond ein. »Natürlich ist sie das, Sperling! So wirkst du nun mal auf Frauen. Komm, überlass die Sache lieber mir.«
Sperling trat mit der Spitze seines Mokassins gegen eine Wurzel und knurrte: »Bitte sehr.« Aschenmond beugte sich vertraulich zu Zaunkönig hin, die vor der intensiven Nähe dieser fremden Frau erschrocken zurückwich.
»Verzeih mir«, begann Aschenmond seufzend. »Aber ich bin krank vor Sorge um Polterer. Du weißt das wahrscheinlich nicht, aber ich habe den Jungen mit meinen eigenen Händen in die Welt geholt, und er und seine Mutter haben die ersten beiden Jahre seines Lebens mit Sperling und mir unter einem Dach gelebt. Er ist wie ein Sohn für uns. Wir lieben ihn über alles. Bitte, sag uns, wo er ist!« Zwischen Misstrauen und Verwunderung hin und her gerissen, blieb Zaunkönig stumm wie ein Fisch. Sie hatte die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt und kämpfte gegen die Tränen an, die unaufhaltsam in ihrer Kehle hochstiegen. Wenn dies wirklich Leute waren, die Polterer liebten, dann sollte sie es ihnen sagen, und zwar schnell, damit sie ihn noch aufhalten konnten, bevor er über den Hügel und hinunter zum See gelaufen war.
Aber…
Anscheinend konnte Aschenmond die Gedanken Zaunkönigs lesen, denn sie tätschelte ihr kurz die Hand und rückte etwas von ihr ab. »Wir sollten Zaunkönig etwas Zeit lassen«, meinte sie zu den beiden Männern gewandt. »Ich kann mir vorstellen, dass das auch für sie ein schrecklicher Tag gewesen ist. Ich weiß zwar nicht, wie es euch geht, aber ich könnte jetzt eine Schale heißen Tee und etwas zu Essen vertragen. Komm mit, Sperling, wir gehen Holz suchen. Blauer Rabe und Zaunkönig möchten bestimmt ein wenig allein sein.«
Aschenmond stand auf und machte sich auf den Weg den Hang hinauf, wo der Wald begann. Silberner Sperling warf Zaunkönig einen raschen Blick zu, ehe er Aschenmond folgte. Vom kalten Licht des Mondes beschienen, sahen ihre Gesichter aus wie körperlose Geister, die durch den Wald huschten. Zaunkönig musterte ihren Onkel mit einem scheelen Seitenblick. »Wirst du es erlauben, dass sie Polterer mitnehmen?«
Blauer Rabe senkte die buschigen Brauen, eine Geste, die sie schon hundertmal bei ihm gesehen hatte. Sie wusste, was sie bedeutete. »Ich denke, wir sollten die Entscheidung Polterer überlassen.« »Polterer?«
Seine nächsten Worte mit großer Sorgfalt wählend, sagte er nach einer Weile: »Ich war nicht lange mit Polterer beisammen, doch selbst nach dieser kurzen Zeit würde ich ihn als ungewöhnlich tapferen und aufrichtigen Jungen einschätzen. Du kennst ihn natürlich viel besser. Schätzt du ihn ebenfalls so ein?« »Oh, ja, Onkel. Ich könnte dir Geschichten erzählen von Prüfungen, die er auf unserer Flucht gemeistert hat… Wenn du die hörtest, würdest du wissen, wie tapfer er ist.«
Blauer Rabe nickte bedächtig. Zaunkönig wartete, dass er weitersprach, dass er seinen Gedanken zu Ende führte …
»Ich glaube, wenn Polterer erfährt, dass du zum Tode verurteilt worden bist und es nur eine Möglichkeit gibt, dich zu retten, und zwar, indem er ins Wandererdorf zurückkehrt und sich stellt, dann wird er …«
»Nein!« Zaunkönig war aufgesprungen und starrte Blauer Rabe mit weit aufgerissenen Augen an. »Nein, Onkel, ich flehe dich an, das kannst du nicht von ihm verlangen. Er - er ist so… empfindsam, und er liebt mich und er vertraut mir. Nein, das werde ich nicht zulassen!«
»Zaunkönig, bitte beruhige dich und setze dich wieder hin.«
Er reichte ihr die Hand.
Zaunkönig wich einen Schritt zurück.
Er winkelte die Beine an, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. Das lange, grau melierte Haar fiel ihm über die Schultern. »Zaunkönig, ich kann nicht mit ansehen, wie du stirbst. Stell dir vor …«
»Stell dir vor, wie wir alle uns dabei fühlen würden«, sagte eine Frauenstimme. Sie kam aus den Schatten.
Ohne Hast nahm Blauer Rabe seine Arme von den Knien, griff nach hinten und erhob sich. »Wer …« »Lass deine Finger vom Bogen.«
Sein Bogen blieb über seiner Schulter hängen. »Elchgeweih!« Zaunkönig beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die Frau hinter einem dicken Bergahorn hervortrat, den Bogen in der Hand, einen Pfeil
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