Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
dem Wandererdorf, Kieselstein hieß sie, Schwarzer Falke, einen Mann aus dem Felsbankdorf heiraten wollen. Da der Wanderer-Klan seine Abstammung durch die mütterliche Linie definierte, waren nur mütterliche Verwandte als Ehepartner ausgeschlossen, also hatten die Alten Frauen des Wanderer-Klans dieser Ehe zugestimmt. Die Bären-Schildkröten-Ältesten des Felsbankdorfes hingegen hatten gegen diese Ehe Einspruch erhoben. Schwarzer Falke war, wie sich herausstellte, der Sohn des Bruders von Kieselsteins Vater, und in Bären-Schildkröten-Klans waren Angehörige väterlicher- sowie mütterlicherseits als Ehepartner tabu.
Allein das Nachdenken über diese verwickelten Zusammenhänge bereitete Blauer Rabe schon Kopfschmerzen. Kein Wunder, dass es zwischen den Völkern immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam.
Um die Sache noch komplizierter zu machen, nutzten die Bären- und Schildkrötenklans das Land auch noch auf unterschiedliche Weise. Die Bären-Klans pflanzten Mais, Bohnen, Kürbis, Sonnenblumen und Tabak an. Während die meisten Erwachsenen das Hauptdorf in den Frühlings- und Sommermonaten verließen, um fischen oder jagen zu gehen, blieben etliche Frauen und Kinder im Dorf zurück. Sie kümmerten sich um die Getreidefelder und Gemüsegärten, bewässerten sie und düngten den Boden, indem sie Fischüberreste in der Nähe der zarten Wurzeln vergruben; später brachten sie die Ernte ein, lagerten sie und bewachten die Vorräte. Die permanente Bestellung des Bodens brachte es mit sich, dass die Erde nach ein paar Wintern ausgelaugt war und der Klan gezwungen wurde, mit seinem Dorf Weiterzuziehen, um neues Ackerland zu finden.
Die Bären-Schildkröten-Klans verbrachten den Winter in ihren Dörfern, die sie im Sommer dann verließen und in kleinere Lager zogen, wo sie fischten, jagten, Beeren, Kräuter und Nüsse sammelten. Das Schildkröten-Volk hingegen bestellte sein Land nicht. Sie streuten im Frühjahr ein Paar Samenkörner über der Erde aus, bauten ihr Lager ab und verbrachten den Sommer, indem sie umherzogen und jagten und sammelten, was Mutter Natur für sie bereithielt. Im Herbst kehrten sie dann zurück, schlugen wieder ihr Winterquartier auf und ernteten, was immer die Vögel und Insekten ihnen an Getreide übrig gelassen hatten. Offenbar brauchten sie den Boden nicht so nötig wie ihre Verwandten des Bärenvolks. In jüngster Vergangenheit hatte es etliche Auseinandersetzungen gegeben; Häuser brannten, Frauen und Kinder wurden gestohlen, Vorratshäuser geplündert. Nichts Ungewöhnliches. Bis jetzt jedenfalls. Die Händler behaupteten, dass die Schildkröten-Klans beschlossen hätten, sich nicht länger von ihrem Land vertreiben zu lassen. Sie wollten sich zusammenschließen und dem Bärenvolk offiziell den Krieg erklären.
Blauer Rabe hatte darüber nur gelacht. Die Schildkröten-Klans schafften es ja nicht einmal, während ihrer alljährlichen, sechs Nächte dauernden zeremoniellen Zusammenkünfte friedlich miteinander auszukommen. Wie konnten sie da darauf hoffen, fragte er sich, sich zu einem langen Krieg zusammenzuschließen?
Springender Dachs hatte den Alten geschmeichelt und die Gerüchte dazu benutzt, um seinen Klan davon zu überzeugen, dass es gut wäre, einem Kriegszug zuzustimmen und das Falschgesicht-Kind zu rauben. Blauer Rabe war wie vor den Kopf geschlagen gewesen, als er gehört hatte, dass die Ratsversammlung mit dem Vorschlag einverstanden war. Ehe er noch Gelegenheit gehabt hatte, seinen Leuten Vernunft beizubringen, hatte Springender Dachs schon seine Krieger um sich geschart und war mit ihnen in den Wäldern verschwunden.
Bilder von flüchtenden Menschen und brennenden Hütten tauchten vor seinem inneren Auge auf. Und seine Träume der vergangenen Nacht waren von den Schreien sterbender Kinder erfüllt gewesen. Er holte tief Luft und marschierte eilig weiter.
Ein eisiger Wind, der den Geruch nach modrigem Laub und verfaultem Holz mitbrachte, wehte über den Pipe Stern Lake. Die kahlen Äste der Ahornbäume und Birken waren von einer glitzernden Reifschicht überzogen. Einen Moment lang labte Blauer Rabe seine Augen an dieser winterlichen Schönheit. Vor dem goldenen Himmel ließ der Raureif auf den Ästen ein silbern funkelndes Netzwerk entstehen.
Er erreichte die Weggabelung und schlug den Pfad ein, der hügelabwärts zu dem kleinen Zedernwäldchen führte, in dem das Versammlungshaus stand. Es maß einhundertzwanzig Hand in der Länge und sechzig in der
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