Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
alten Mann. Aber damals war er noch kein Träumer gewesen, sondern ein Händler. »Dein Neffe, Springender Dachs, hat ja alles darangesetzt, dass diese Geschichten auch jedermann zu Ohren kommen. Ich wünschte, du würdest mir vertrauen.« Straußenfeders Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. Ein orangeroter Schimmer lag auf seinem Gesicht. »Verzeih, Ältester, aber Siebenstern hat gesagt, dass du sofort kommen sollst.« »Ich bin gleich fertig.« Blauer Rabe nahm seine Handschuhe von dem Begrenzungsstein der Feuerstelle, auf den er sie zum Trocknen gelegt hatte. »Richte Springender Dachs …« »Er ist noch nicht wieder im Dorf, Älterer«, erwiderte Straußenfeder. »Springender Dachs hat zwei Läufer mit dem Jungen vorausgeschickt. Moosschnabel und Schädelkappe sagten, dass Springender Dachs heute abend zurückkehren würde, dann übergaben sie das Falschgesicht-Kind den alten Frauen und flüchteten in ihre Langhäuser. Sie waren beide so krank, dass sie kaum noch stehen konnten!« »Krank?«, rief Zaunkönig mit wiedererwachtem Interesse dazwischen. »Was haben sie denn?« »Das hat mir niemand erzählt!«, bellte Straußenfeder. »Ich bin nur ein Junge!«
Blauer Rabe streifte sich beunruhigt die Handschuhe über.
Die Männer hatten tagelang gekämpft und waren eine weite Strecke gelaufen, da waren sie natürlich erschöpft, aber… krank? »Und warum ist Springender Dachs noch nicht wieder zurück? Wo steckt er überhaupt?«
»Er jagt hinter den Überlebenden der Schlacht im Buntfelsendorf her.«
Hitzige Röte stieg Blauer Rabe in die Wangen. Die Anführerinnen des Klans hatten Springender Dachs beauftragt, den Jungen zu entführen, doch er hatte selbstständig entschieden, alle Mitglieder des Buntfelsendorfes zu töten. Seit vielen Wintern schon wuchs sein Ärger über die Überheblichkeit seines Cousins beständig an. Seit fünf Wintern war Springender Dachs Kriegsführer. Und in dieser kurzen Zeit hatte er sich beinahe alle Dörfer im Umkreis einer Mondreise zum Feind gemacht. Sein Wort schien mehr Kraft zu besitzen als das von Blauer Rabe. Er gab Straußenfeder einen Wink mit der behandschuhten Hand. »Lauf los und richte Siebenstern aus, dass ich auf dem Weg zu ihr bin.« »Ja, Ältester.« Straußenfeder duckte sich unter den Türvorhang und eilte davon.
Frost-auf-den-Weiden fixierte Blauer Rabe mit einem sorgenvollen Blick. »Hör mich an, mein Sohn. Jeder von uns weiß, dass du gegen diesen Überfall gewesen bist. Ich war auch nicht damit einverstanden. Aber das zählt jetzt nicht mehr. Die Tat ist geschehen. Das Falschgesicht-Kind ist hier bei uns. Behandle ihn wie einen verwundeten Panter, wie eine Bestie, die sich unter Schmerzen windet und alles daransetzen wird zu fliehen.«
»Eine Bestie, Mutter?« Blauer Rabes Stimme wurde auf einmal sehr leise, und es schien, als neigten sich alle Bewohner des Langhauses näher zu ihm hin, um ihn besser verstehen zu können. »Er ist ein kleiner Junge. Ein Kind, das gerade hatte mit ansehen müssen, wie seine ganze Welt zerstört wurde. Er …«
»Ich warne dich«, fiel ihm seine Mutter ins Wort und hob eine verknöcherte Hand. »Er ist nicht menschlich.«
Zaunkönigs Mund klappte auf. »Ist er nicht? Was ist er dann?«
Blauer Rabe ignorierte seine kleine Nichte. Er liebte und achtete seine Mutter zu sehr, um in Gegenwart anderer ihre Worte in Frage zu stellen. Sie saß kerzengerade am Feuer, das ihr schneeweißes Haar mit einem rötlichen Schimmer überzog. »Ich werde mich vorsehen, Mutter. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.« Mit diesen Worten hob er den Türvorhang an und schlüpfte hinaus.
Die Kälte traf ihn wie ein Faustschlag, bohrte sich in sein Heisch und brannte ihm in den Augen. Er beschleunigte seinen Schritt.
Sechs Langhäuser umschlossen den Dorfplatz. Um das Dorf hatten sie eine Palisade aus Baumstämmen errichtet, die zwanzig Hand hoch aufragte - eine notwenige Schutzmaßnahme seit den Überfällen von Springender Dachs. Sie fühlten sich auch in ihrem eigenen Dorf nicht mehr sicher. Überall in den Eingängen zu den Langhäusern tauchten Köpfe auf. Die Leute starrten ihm mit angespannten Gesichtern hinterher, weiße Dampfwolken ausatmend, während sie miteinander tuschelten. Blauer Rabe spürte ihre Aufregung und ihre Angst ganz deutlich. Die bangen Empfindungen prickelten auch auf seiner Haut wie die ersten Regentropfen eines herannahenden Unwetters, das Flüsse über die Ufer treten lässt und ganze Dörfer
Weitere Kostenlose Bücher