Wachstumsschmerz
die Flo irre romantisch findet, und eine Gelegenheit, die ich aus Neugierde genau einmal wahrgenommen habe. Und obwohl Klettern relativ eindrucksvoll aussieht und ich daher doch mit einigem Respekt, wenn auch mit wenig Körperspannung, an die Sache herangegangen bin, war ich enttäuscht. Innerhalb weniger Minuten bin ich die 25 -Meter-Wand hochgeklettert, hab mich abseilen lassen, mich selbst aus dem Sicherungsgeschirr gefriemelt, Flo in die erwartungsfrohen Augen geschaut und gesagt: »Öde. Kaffee?«
Danach hat Flo zwei Tage lang nicht mit mir gesprochen.
Dass ich Jana mitbringe, ist eine Art verspätetes Entschuldigungsgeschenk.
Janas Psychologiestudium sorgt auch dafür, dass sie weiß, wann es genug ist, und das ist augenscheinlich jetzt. »Alles klar, dann besorg mir mal diese Gürtel, oder was immer man dafür braucht!« Mein zauberhafter Flo ist schnell wieder auf den Beinen, emotional und auch körperlich, und er flitzt weg, um den ganzen nötigen Kram zu holen.
Vollkommen eingeschirrt sieht Jana aus, als würde sie eine Kinderleine tragen. Laut sage ich das aber nicht, denn der Witz kam beim letzten Mal schon nicht besonders gut an, außerdem sollte man Flo nicht noch mehr ärgern, sonst lässt er nachher Jana fallen, der Chef sichert nämlich höchstpersönlich ab.
»Darf ich die Leine halten?«, frage ich.
»Bist du bekloppt?«, fragen beide aus einem Mund.
»Was denn? Im Grunde muss man doch nur das Seil richtig halten. Und vielleicht ist Flo grad zu emotional für eine professionelle Sicherung.«
Flo bekommt einen Strichmund. Den bekommt er sehr selten, und er markiert die Grenze, die die schlaue Jana schon viel früher bemerkt hat. Das hier ist Flos Revier, hier darf nicht gewildert werden. Und angesichts der Tatsache, dass es sonst kaum Reviere gibt, in denen ich nicht wildern darf, trete ich einen Schritt zurück, damit Jana in Ruhe losklettern und Flo lossichern kann.
Jana braucht kaum länger als ich, um an der Hallendecke abzuklatschen, und springt mit wehenden Haaren am professionell gesicherten Seil an der Wand entlang herunter. Auf der Matte angekommen, fragt sie, ob sie noch mal dürfe, und Flo streckt mir die Zunge raus und sagt: »Klar!«
Ich gehe raus, um zu rauchen und meine Freundin Rieke anzurufen. Unterwegs klaube ich halbherzig ein paar Wohnungsangebote von der Mitglieder-Pinnwand und setze mich auf die Raucherbank. Das Holz ist von der Sonne aufgeheizt, und schnell klebt der Schweiß meiner Shorts an meinem Hintern.
»Wo bist du?«, will Rieke wissen.
»Vor der Kletterhalle«, antworte ich missmutig.
»Wenigstens nur
davor
. Bist du nicht eigentlich mit Jana verabredet?«
»Ja. Die ist
in
der Kletterhalle.«
Ich glaube hören zu können, wie Rieke eine Augenbraue hochzieht, dann sagt sie knapp: »Das tut mir leid. Rufst du deshalb an?«
»Weshalb?«, frage ich.
»Um Absolution für deine Verachtung zu erhalten?«
»Vielleicht. Kommt drauf an, wie schlimm du das fändest.«
»Was genau verachtest du denn? Jana? Das sportliche Bewusstsein der Menschen im Allgemeinen? Oder dich selbst dafür, dass es dir abgeht?«
Ich denke kurz nach und entscheide mich für die zweite Möglichkeit mit einem leichten Hang zur dritten.
»Dann hast du vollste Absolution von mir! Brauchst du sonst noch was, sonst müsste ich hier weitermachen.«
»Was denn weitermachen?«
»Jetzt schindest du Zeit!«
»Mit dir zu telefonieren fetzt nicht«, nöle ich.
»Telefonieren fetzt nie«, stellt Rieke richtig und legt einfach auf.
Menschen in Bürokleidung laufen an mir vorbei in die Halle. Es ist kurz nach achtzehn Uhr, vermutlich fährt man direkt nach der Arbeit noch mal schnell hier vorbei, um eine Runde zu … na ja … klettern. Und obwohl mir dafür vollkommen das Verständnis fehlt, sehen sie aufgeregt aus. Abenteuer-hungrig, Thrill-darbend, Excitement-geil. Ich finde es ein wenig schade, dass mir so dermaßen die Leidenschaft für diesen Sport (oder irgendeinen Sport) fehlt. Und während ich darüber nachdenke, was mich stattdessen im Leben hungrig macht, was
mein
Synonym für diese Kletterlust ist, merke ich, dass ich nicht hungrig bin. Auch nicht satt. Eher appetitlos. Ein Gefühl, als hätte ich vor dem Abendessen genascht, und nun stehe ich vor dem größten Buffet der Welt und finde all die exotischen, schönen und vor allem so reichhaltigen Speisen nur okay. Wann war ich denn überhaupt das letzte Mal wirklich hungrig?
»Luise, wollen wir was essen, oder bist du noch
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