Wachtmeister Studer
natürlich in die Hand genommen und neugierig, wie Frauen einmal sind, untersucht. Dann wäre selbstverständlich kein Fingerabdruck mehr festzustellen gewesen. Also war es nicht so arg, so tröstete sich Studer, daß er den Browning so ohne Vorsichtsmaßnahmen einfach eingesteckt hatte… Schade, daß er Frau Hofmann nicht gefragt hatte, wann der Schlumpf am Dienstagabend oder vielmehr in der Dienstagnacht heimgekommen war… Aber eigentlich war diese Frage nicht nötig, die Antwort stand sicher in den Akten, richtig, Studer erinnerte sich an eine Seite, auf der stand:
»Frau Hofmann gibt auf Befragen an, der Angeklagte sei in der Mordnacht erst gegen ein Uhr heimgekommen…« Studer schüttelte den Kopf. Merkwürdig, daß diese belastende Tatsache ihn so gar nicht interessierte. Es war alles zu einfach aufgebaut. Ein Vorbestrafter, der einen Mord begeht, der natürlich kein Alibi hat, bei dem das Geld des Ermordeten gefunden wird, der nicht reden will, aber seine Unschuld beteuert, der einen Selbstmordversuch begeht… Es schmeckte – ja, das Ganze schmeckte nach einem schlechten Roman…
Aber natürlich, der unschuldig Schuldige, das war in diesem Fall eine recht reale Figur, ein Mensch, dem es schlecht gegangen war, der wieder eine Zeitlang auf den geraden Weg gekommen war, und der nun… Was hatte der Schlumpf in der Freizeit gelesen? Etwa auch Felicitas Rose? Oder John Kling? Eigentlich wäre das ganz interessant festzustellen. Das kleine Mädchen wußte es sicher, das Mädchen, das teure Füllfederhalter verschenkte… Hatte es eine Liebschaft mit dem Coiffeurgehilfen Gerber? Es sah eigentlich nicht so aus… Aber warum dann das teure Geschenk?… Der Füllfederhalter… Ja… Man trug den Füllfederhalter gewöhnlich in der linken Brusttasche des Rockes oder in der oberen Westentasche. Man nahm ihn mit, besonders wenn man Bestellungen sammeln ging. Hatte ihn der Wendelin Witschi am Dienstag auch mitgenommen?… Doch wann hatte er ihn seiner Tochter gegeben?… Die Taschen des Wendelin Witschi waren leer und auf dem Rücken seines Rockes hafteten keine Tannennadeln…
Die beiden betraten die Küche… Im Schüttstein unaufgewaschenes Geschirr… Auf dem Tisch stand ein Teller, Butter darauf, daneben lag ein Kamm.
Studer war allein, Sonja war verschwunden…
Durch eine offene Tür betrat der Wachtmeister das anliegende Zimmer. Die Vorhänge vor den Fenstern waren grau, auf dem Klavier lag eine Staubschicht. Die Tür fiel zu. Es zog in diesem Haus. Durch die Erschütterung des Zuschlagens löste sich von dem Bilde, das über dem Klavier hing, eine graue Wolke ab. Das Bild stellte den seligen Wendelin Witschi vor, in jungen Jahren, und war wohl bei der Hochzeit aufgenommen worden. Zwischen den Spitzen des steifen Umlegkragens lugte ein kleiner schwarzer Kopf hervor. Der Schnurrbart war schon damals traurig gewesen. Und die Augen…
Auf dem Tische, der eine Decke mit Fransen trug, rot-gelb-blau lagen viele Hefte. Auch das schwere schwarze Büfett war mit Heften überdeckt.
Studer blätterte in den Heften. Sie waren alle von der gleichen Art: Bilder von Hunden oder von Kindern, eine Bergkapelle, ein Roman, Winke für die Hausfrau, graphologische Ecke. und, auffällig, auf allen Titelblättern:
»Wir versichern unsere Abonnenten… Bei Ganzinvalidität oder Tod zahlen wir aus…«
Fünf verschiedene Sorten Hefte. Wenn alle die Versicherung auszahlten, ergab das… es ergab eine ganz stattliche Summe… Und was hatte der Notar Münch gesagt? Der alte Ellenberger habe Schuldbriefe und wolle sie kündigen?
Im oberen Stockwerk liefen Schritte auf und ab. Was machte Sonja dort oben, warum ließ sie ihn allein in der Wohnung? Es wurde ein schwerer Gegenstand gerückt. Studer lächelte. Das Mädchen machte wohl die Betten, jetzt am Abend. Eine merkwürdige Ordnung herrschte in der Familie Witschi…
Studer blätterte weiter in den Heften. Er stieß auf ein paar Stellen, die angestrichen waren und las:
»Da stieg es in ihr auf, heiß und brennend. Sie warf sich in seine Arme, sie umklammerte seinen Hals, als sollte sie ihn nie, nie mehr loslassen…«
Und weiter:
»Und wir, Sonja, mein süßes Lieb, mein holdes Weib – wir werden glücklich sein…«
»Leichenblaß bis in die Lippen, bebend an allen Gliedern, stand Sonja vor ihm…«
Studer seufzte. Er dachte an lauen Kaffee und an eine Frau, die am Morgen schmachtend war, weil sie in der Nacht zu viele Romane gelesen hatte…
Dann trat der Wachtmeister ans
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