Wachtmeister Studer
Lehrer Schwomm, vor ihrem Bruder und vielleicht auch vor dem »Onkel« Aeschbacher.«
»Ja«, sagte Murmann, »das glaub' ich. Die Sonja meint, daß ihr Vater Selbstmord begangen hat. Aber wenn man Selbstmord annimmt, dann werden keine Versicherungen ausgezahlt. Und der Gerber, der Coiffeur, hat bemerkt, daß bei dem sogenannten Mord nicht alles stimmt. Und nun hat die Sonja Angst, er könne etwas sagen… Verstehst du?«
»Erzähl' einmal die Geschichte von Anfang an. Ich brauch' weniger die Tatsachen als die Luft, in der die Leute gelebt haben… Verstehst? So die kleinen Sächeli, auf die niemand achtgibt und die dann eigentlich den ganzen Fall erhellen… Hell!… Soweit das möglich ist, natürlich.«
Von großen Pausen unterbrochen, mit vielen Abschweifungen und ungezählten eingeschalteten ›Nid?‹ und ›Begriifscht?‹ erzählte Landjägerkorporal Murmann dem Wachtmeister Studer etwa folgende Geschichte:
– Der Witschi Wendelin hatte vor zweiundzwanzig Jahren geheiratet. Er war damals bei der Bahn gewesen. Das Ehepaar hatte zuerst eine Wohnung im Haus des Aeschbacher innegehabt, dann war eine Tante der Frau Witschi gestorben, die Erbschaft war ziemlich groß gewesen und da hatten sie sich entschlossen zu bauen…
»Wie heißt übrigens die Frau Witschi mit dem Vornamen? fragte Studer.
»Anastasia… Warum?«
Studer lächelte, schwieg eine Weile, dann sagte er:
»Nur so, erzähl' weiter…«
– Sie hatten also das Haus gebaut, Kinder waren gekommen, das Ehepaar schien glücklich zu sein. Die Frau war schaffig, sie hielt den Garten in Ordnung, sie bediente im Laden. Am Abend sah man die beiden einträchtig auf einer Bank vor dem Hause sitzen, der Witschi las die Zeitung, die Frau strickte…
– Studer sah das Bild deutlich vor sich. Unter den Fenstern des ersten Stockes glänzte noch, neu und unverblaßt, der Name des Hauses, ›Alpenruh‹, und über der Tür der Spruch: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein.‹ Der Wendelin Witschi hockte auf der Bank, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, bisweilen legte er die Zeitung beiseite (er las sicher nur den Gerzensteiner Anzeiger), stand auf, um ein Zweiglein am Spalier anzubinden, das im Wind schaukelte, kam zurück… im Sand krabbelten die beiden Kinder. Die Luft war still. Heugeruch lag schwer in der Luft. Die Frau sagte: ›Du, loos einisch…‹ Sehr viel Frieden. Die Ladenklingel schrillte. Man stand gemütlich auf, ging zusammen in den Laden, besprach mit den Kunden das Wetter, die Politik… Der Wendelin (wie nannte ihn wohl seine Frau? Das müßte man eigentlich auch wissen… Vatter? Wahrscheinlich. Das paßte am besten… ), der Wendelin hatte die Daumen in den Ausschnitten der Weste und war ein angesehener Bürger, verwandt mit dem Gemeindepräsidenten, Hausbesitzer… Und dann, Jahr für Jahr, die Änderungen… Die Frau, die hässig wird, die Frau, die Romane liest, dann die finanziellen Schwierigkeiten, der Sohn, der sich auf die Seite der Mutter schlägt, der Garten, der verlottert, der Wendelin, der reisen geht, der Wendelin, der Schnaps trinkt, die Zeitschriften mit den Versicherungen… Bei Ganzinvalidität war die Summe doch gerade so hoch wie bei Todesfall… Aber als Bild, das sich nicht vertreiben ließ, sah Studer immer die Bank vor dem Haus, die Kinder, die am Boden spielten, das lockere Zweiglein, das im Winde schwankte, und das der Wendelin mit einem gelben Bastfaden festband…
Studer hatte eine Weile nicht mehr zugehört, jetzt horchte er auf, denn Murmann sagte:
»… und einen Hund hat er auch gehabt. Einmal, wie der Witschi halb besoffen nach Haus gegangen ist, haben ihn ein paar Burschen angeödet. Da hat der Hund gebellt und ist auf die Burschen los. Einer hat ihn mit einem Stein totgeschlagen…«
Das gehörte natürlich auch dazu. Der Witschi , der sich einsam fühlt und sich einen Hund hält. Wahrscheinlich war der das einzige Wesen, das ihm keine Vorwürfe machte, vor dem er klagen konnte… Und wieder versank Studer ins Träumen.
– Er sah die Familie Witschi um den Tisch sitzen, im Wohnzimmer, das er kannte. In der Ecke stand das staubige Klavier. Der Witschi versuchte Zeitung zu lesen… Und die keifende Stimme der Frau: Versichert seien sie und das viele Geld, das man der Versicherung gezahlt habe! Die Frau dachte nicht daran, daß schließlich sie bis jetzt alle Vorteile genossen hatte von dieser Versicherung, die bunten Heftli mit den Romanen darin… Waren diese Romane nicht etwas Ähnliches
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