Wächter des Elfenhains (German Edition)
und seine Kehle schien sich mit Staub zu füllen. Gespenster der Vergangenheit erhoben sich um ihn herum, ohne dass er es hätte verhindern können, Gespenster mit bleichen Gesichtern und toten Augen, die anklagend auf ihn herabstarrten. Neanden knirschte mit den Zähnen. Seine Tante war tot gewesen, als er sie damals gefunden hatte, ihr Kind bei lebendigem Leib aus ihr herausgeschnitten worden, ihr Herz vom scharfen Stahl von Ogaires Messer durchbohrt. Keine Macht der Welt, auch nicht die von Maifell oder einem der Ältesten, hätte sie wieder ins Leben zurückzuholen vermocht. 90 Jahre lang hatte er sich in seinem Selbstmitleid gesuhlt, hatte sich mit Schuldgefühlen und Vorwürfen gemartert, doch es wurde Zeit, der Wahrheit endlich ins Gesicht zu blicken. Er trug nicht die Verantwortung für das, was damals geschehen war. Das tat allein Ogaire. Seine Grausamkeit hatte jede Hoffnung auf Heilung von Anfang an zunichtegemacht. Hätte auch nur die geringste Chance bestanden, Isirada zu retten, er hätte sie ergriffen. Er hätte den verlöschenden Funken ihres Lebens mit seiner Magie umfangen, hätte ihn vor der eisigen Kälte und Dunkelheit bewahrt und ihn genährt, bis er erneut zu einer starken, hellen Flamme herangewachsen wäre. Zwar war er nie ein guter Heiler gewesen, aber was ihm an Erfahrung gefehlt hätte, hätte er mit seinem Willen und seiner grimmigen Entschlossenheit wettgemacht. So viele Jahre hatte er gebraucht, um zu begreifen, dass Ogaire ihm an jenem schrecklichen Tag nicht nur seine Tante geraubt hatte. Er hatte ihm auch die Hoffnung genommen. Ohne Hoffnung jedoch konnte es niemals eine Heilung geben. Doch die Dinge hatten sich geändert. Denn nun war Andion da.
Neanden schloss die Augen, achtete nicht länger auf das höhnische Flüstern seiner Ängste und Zweifel, die viel zu lange schon die Wärme und das Licht in ihm erstickten und seine Seele in Einsamkeit und Schwärze gefangen hielten. Er bündelte seinen Willen, stieß ihn durch den Panzer aus Trauer und Schmerz, der sein Herz umschloss, der seit Ogaires Verrat und dem Tod seiner Tante zu einem so vertrauten, selbstverständlichen Teil seines Wesens geworden war, dass er seine Existenz bis zu diesem Augenblick selbst kaum wahrgenommen hatte, suchte in sich nach dem Mitgefühl und der Liebe, die früher so rein und stark in ihm gebrannt hatten.
Das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen, und ein hämmernder Schmerz schien seinen Schädel von innen auseinandersprengen zu wollen, doch Neanden gab nicht auf. Er kämpfte verzweifelt, ließ jeden Gedanken und jedes seiner Gefühle im heißen Feuer seiner Entschlossenheit hinwegschmelzen, bis nur noch ein einziges leidenschaftliches Verlangen geblieben war. Andion musste leben! Er musste leben!
Die Sekunden flossen dahin, ließen jeden wummernden Schlag seines Herzens wie Hohngelächter in seinen Ohren dröhnen. Und dann, plötzlich, von einem Augenblick zum anderen, spürte er es. Wie eine Blüte, die sich nach einer langen, trostlosen Nacht im ersten Schein der Morgensonne zu öffnen begann, glomm mit einem Mal ein sanftes, gütiges Licht in seiner Seele auf, und eine Wärme, die er für immer verloren geglaubt hatte, strömte durch seinen Körper und ließ ihn vor Freude und Dankbarkeit aufschluchzen. Er konnte wieder heilen! Bei allen Bäumen, er konnte tatsächlich wieder heilen!
Er öffnete seinen Geist und fühlte, wie die Wärme aus ihm herausfloss, wie sie durch seine Arme und Hände flutete und in Andion eindrang. Doch seine Freude erlosch ebenso schnell, wie sie gekommen war. Denn die Wärme und das Licht bewirkten nichts. Sie versickerten einfach in der Dunkelheit, die sich gierig in Andions Seele gekrallt hatte, konnten den letzten kleinen Lebensfunken weder erreichen noch neu entfachen. Erschrocken spürte er, wie Andion stattdessen noch tiefer hinab ins Dunkel glitt. Nicht mehr lange, und er würde für immer darin versinken.
Die kalte, grausame Wahrheit schnitt Neanden wie ein Messer in den Leib, krümmte seine Schultern und ließ ihn vor Qual und hilfloser Wut aufheulen. Er hatte versagt. Wieder einmal hatte er sich selbst etwas vorgemacht, hatte geglaubt, die zertrennten Fäden des Schicksals mit der armseligen Kraft seines Willens neu zusammenfügen zu können. Doch für eine einfache Heilung war es längst zu spät. Andion war bereits zu weit von ihm entfernt, trieb schon zu lange einsam durch die Schwärze der Nacht, um die Hand, die sich ihm entgegenstreckte und ihn ins
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