Wächter des Mythos (German Edition)
mit ihm der herbe Geruch des Tieres: Es roch nach Erde, nach Blut und Angst. Gabriel sah den imaginären Stier wieder vor sich, schwarz wie die Nacht und von strotzender Kraft und Wildheit. Ein Paar Banderillas steckten in seinem blutenden Nacken, er war schweißnass vor Erschöpfung und Zorn. Seine wilde, unberechenbare Naturgewalt war durch und durch zu spüren, ein Zauber, dessen Wurzeln sich tief in archaischer Zeit verloren. Für einen Moment fühlte Gabriel sich auf rätselhafte Weise mit diesen Gewalten verbunden, denn sie waren ein Ausdruck seiner urspanischen Seele.
Mit einem mürrischen Knarren öffnete sich nun die Tür vor ihm und ein alter, etwas kauzig wirkender Mann erschien.
»Guten Tag, sind Sie Dr. Andreas Bernard?«, fragte Gabriel nach einem kurzen sprachlosen Zögern.
Bernard war fast so groß wie Gabriel, wirres weißes Haar zierte seinen Kopf. Seine Haltung war etwas gebeugt, er trug ausgewaschene, aber sorgfältig gebügelte Jeans und einen khakifarbenen Pullover mit Lederverstärkungen an den Ellbogen. Sein Verhalten verriet eine gewisse militärische Strenge.
»Was wollen Sie?«, fragte er misstrauisch.
»Ich bin Gabriel Diaz aus Madrid und habe Ihren Artikel in der Zeitung gelesen. Ich möchte mit Ihnen darüber reden.«
»Sind Sie von den Zeugen Jehovas? Oder worüber möchten Sie mit mir sprechen?«
»Nein, das bin ich leider nicht«, sagte Gabriel lächelnd. »Aber vielleicht möchte ich mit Ihnen trotzdem über Gott und die Welt sprechen. Gewisse Aspekte in Ihrem Artikel interessieren mich sehr, ich bin deswegen extra von Madrid nach Basel geflogen.«
Bernard war gerade im Begriff, ihm die Tür vor der Nase zu schließen.
»Erlauben Sie mir bitte eine Frage«, kam ihm Gabriel zuvor. Er begann, einen alten Vers auf Lateinisch zu zitieren, langsam und deutlich, er betonte jede Silbe. Bernard hatte ihn in seinem Artikel zitiert und Gabriel kannte ihn auch von seinem verstorbenen Bruder Ismael.
»›Vetustatem novitas, umbram fugat veritas‹, erinnern Sie sich an diese Zeilen in Ihrem Artikel? Aber sie haben das Ende der Strophe, ›noctem lux eliminat‹, vergessen. Oder wollten Sie absichtlich nur diese beiden Zeilen zitieren: ›Vor der Wahrheit muss das Zeichen, vor dem Licht der Schatten weichen?‹«
Bernard hielt kurz inne, seine blauen Augen leuchteten auf. »Nun, dann kommen Sie doch bitte herein.«
* * *
Die Hände in der Manteltasche, verließ ein Italiener den Nachtzug aus Rom am Hauptbahnhof in Basel. Er trug einen unauffälligen grauen Mantel, der leicht gefüttert war. Der Italiener nahm die Rolltreppe, bog ohne zu zögern in die Straße ein, die parallel zum Bahnhof verlief, und stieg in die erste Straßenbahn, die hielt. Er wusste, dass ein Mann, der mit einer Karte in der Hand seinen Weg suchte, viel zu sehr auffiel. Daher hatte er den Straßenplan von jeder Stadt, in die er reiste, genau vor Augen, auch wenn ihn das im Vorfeld viel Arbeit kostete. Doch diesmal hatte er auch Glück, denn die Straßenbahn brachte ihn direkt zum Marktplatz, dem die mittelalterliche rote Fassade des Basler Rathauses sein markantes und stolzes Gesicht verlieh.
Mit schnellem Schritt überquerte er den großen Platz und hielt seinen alten Lederkoffer fest in der Hand. Er folgte einem Straßenstück und warf im Vorübereilen einen flüchtigen Blick auf die noch geschlossenen Läden. Doch kurz vor der Mittleren-Rheinbrücke blieben seine Augen an einem Café hängen, das ein leckeres Frühstück bot. Roberto fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er wäre jetzt gerne hineingegangen, doch leider war das im Moment unmöglich.
Erst gestern Abend hatte er eine Botschaft aus dem Vatikan erhalten, worauf ihm gerade noch die Zeit dazu geblieben war, seine Sachen zu packen, bevor er in Rom in den Nachtzug nach Basel gesprungen war. Einen Moment hielt er nun inne, um nachzusehen, wie spät es war. Die Uhr zeigte genau 07:07 an. Er seufzte zufrieden, es war für ihn immer ein beruhigendes Gefühl, wenn der göttliche Augenblick mit seiner weltlichen Zeit harmonierte. Ohne Zweifel, dies war ein gutes Zeichen für einen guten Tag.
Roberto bog in die Augustinergasse, die von dieser Seite aus steil hinauf zum Münsterplatz führte und an einigen Stellen einen Blick auf den Rhein freigab. Er kam jetzt an der 1460 gegründeten Universität am Rheinsprung vorbei und stand kurz darauf vor dem Brunnen, dessen reich geschmücktes Kapitell ein Basilisk krönte. Mit ehernem Griff hielt das
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