Wächter
Ausrüstungsluke.
»Du gehst links, ich rechts«, sagte er. »Wenn du dich noch mal an der Nase kratzen musst, ist jetzt der richtige Zeitpunkt.«
Sie hielten inne. Dann umarmten sie sich, und Myra sog seinen Geruch ein.
Sie lösten sich voneinander. »Licht aus!«, rief Juri. Die letzte Röhre erlosch, und die Station lag im Dunklen. »Auf Wiedersehen, H. G.«, sagte Juri leise zu seiner Basis. Myra hatte ihn nie diesen Namen nennen hören.
Myra öffnete ihre Luke und schlüpfte mit einer Geschicklichkeit, die sie während ihres langen Aufenthalts auf dem Mars erworben hatte, mit den Füßen voran in den Anzug. Und als sie die rechte Hand in den Ärmel schob, erlebte sie eine Überraschung. Der Handschuh, den sie eigentlich erwartet hatte, war nicht da. Stattdessen griff ihre Hand in eine andere warme Hand.
Sie beugte sich vor. Im Schein der Anzuglampe sah sie, dass der Handschuh vom Anzug abgeschnitten und der rechte Ärmel mit Juris linkem verklebt worden war.
Juri linste aus dem Helm. »Was sagst du nun zu meinen Schneiderkünsten?«
»Gute Arbeit, Juri.«
»Den Anzügen gefällt das natürlich nicht. Sie glauben jetzt, dass sie defekt seien. Aber zum Teufel mit ihnen. Die provisorische Dichtung muss auch nicht lange halten. Natürlich müssen wir nun wie siamesische Zwillinge alles gemeinsam tun. Was macht dein Anzug?«
Sie hatte bereits die Selbstdiagnose durchgeführt. Sie warf einen Blick auf Juris Brust-Display, um sicherzugehen, dass er nichts übersehen hatte, und er tat das Gleiche für sie. »Alles in Ordnung bis auf das Genörgel wegen der Handschuhe.«
»Sehr gut«, sagte er. »Und jetzt stehen wir auf. Drei, zwei, eins …«
Mit verschränkten Händen richteten sie sich auf. Ihre Exoskelett-Motoren surrten, und der Anzug löste sich mit einem schmatzenden Geräusch von der Kuppel.
Aus alter Gewohnheit drehte sie sich um, nahm einen weichen Pinsel und wischte den Mars-Staub von der Kuppeldichtung. Juri folgte ihrem Beispiel. Es war etwas umständlich, wo sie sich an den Händen hielten.
Dann bückte Juri sich, hob die Sensorkugel mit der rechten Hand auf, und sie marschierten los.
Es war stockfinster, und es schneite ununterbrochen - formlose Flocken aus gefrorener Marsluft, die von den Lampen der Anzüge angestrahlt wurden. Aber der Boden war einigermaßen frei; sie hatten gestern eine Schneise räumen lassen.
Eine kleine Robot-Kamera rollte hinterher und machte sogar jetzt noch fleißig Aufnahmen. Dann blieb sie in einer Schneeverwehung stecken. Myra befreite sie mit einem Fußtritt, und das Ding rollte mit rot glühenden Lichtern weiter.
Juri hielt an und stellte die Sensorkugel vor ihnen auf den Boden. »Hier, oder was meinst du?«
»Wieso nicht. Dieser Ort ist so gut wie jeder andere.«
Er richtete sich auf. Es wollte nicht aufhören zu schneien. Juri streckte die Hand aus und fing ein paar Flocken. Sie sahen wie dicke Motten aus, die sich auf dem Handschuh niederließen, bevor sie wegsublimierten. »Mein Gott«, sagte er, »es gibt so viele Wunder hier. Diese Flocken haben eine Struktur, musst du wissen. Jede Schneeflocke entsteht zunächst aus einem Kern aus Staub, dann aus Wassereis, und erst dann kommt eine äußere Hülle aus Trockeneis. Sie ähnelt einer Zwiebel. Und sie fallen hier jeden Winter. Also überschneiden sich drei globale Zyklen, Staub, Wasser und Kohlendioxyd, in einer Schneeflocke. Wir hatten gerade erst begonnen, den Mars zu verstehen.« In seiner Stimme schwang eine Bitternis mit, die sie seit Monaten nicht bei ihm gehört hatte. »Für manche wäre das die Hölle«, sagte er. »Eine Hölle aus Kälte und Dunkelheit. Aber nicht für mich.«
»Auch nicht für mich«, flüsterte sie und drückte seine Hand in den zusammengeklebten Ärmeln. »Juri.«
»Ja?«
»Danke. Für diese letzten Monate und dafür, dass ich …«
»Sag nichts.«
Ein Geräusch, als ob eine Tür zugeschlagen worden wäre, wurde durch die Anzüge übertragen. Ein Alarm ertönte in Myras Ohren, und im Kinn-Display leuchteten Lampen auf.
Der Boden bebte.
»Wie aufs Stichwort«, sagte Juri.
Sie schauten sich an. Das war das erste deutliche Zeichen seit dem Verschwinden der Sonne, dass etwas Bedeutendes geschah.
Angst schnürte ihr die Kehle zu. Plötzlich wünschte sie sich, das alles würde überhaupt nicht geschehen, dass sie in die Station zurückgehen und mit ihrem Tagwerk fortfahren könnten. Sie hielt Juris Hand fest, und sie stießen wie zwei grüne Sumo-Ringer in den
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