Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
Vom Netzwerk:
I.
Die Liebeskatastrophe
    Das Scherengitter rasselte in seiner Führungsschiene vorwärts und schnappte mit einem sanft-metallischen Klicken ins Schloss – trotzdem rührte sich der Aufzug nicht von der Stelle. Er brauchte einen verdutzten Augenblick, bevor er kapierte: Es handelte sich um einen jener altmodischen Aufzüge, wo es im Inneren der Kabine ein zweites Scherengitter gab, das man einrasten lassen musste. Leider blieb der Aufzug danach aber immer noch eisern stehen. Ihn kitzelten die Blicke der anderen Fahrgäste im Nackenhaar, er drehte sich um, und nun erst sah er ihn im Halbdunkel: einen kleinen alten Mann in einer nachtblauen Livree, dem die Schirmmütze schief im Haar hing. Neben dem Männlein wuchs etwas aus dem Boden des Aufzugs, das so aussah wie ein Maschinentelegraf. Ein Maschinentelegraf? Auf Schiffen hatten solche Geräte früher der Verständigung zwischen Brücke und Maschinenraum gedient: Wenn der nautische Offizier den Hebel umwuchtete, hatte es tief drunten im Schiffsbauch gebimmelt, dann wusste die Mannschaft gleich, ob die gewaltigen Schrauben sich hierhin oder dorthin drehen sollten. Volle Kraft zurück – so hatte manches Unglück (erinnern wir uns an die Jungfernfahrt des größten Passagierdampfers aller Zeiten, der »Titanic«) im letzten Moment noch abgewendet werden können. Dieser Maschinentelegraf hier drinnen hatte allerdings rein gar nichts mit Weltmeeren oder Wogengang zu tun; er zeigte keine Fahrgeschwindigkeiten an, sondern Stockwerke. Die hüfthohe Messingsäule kulminierte in einem Ziffernblatt, dem schwarz auf weiß diese Wörter eingestanzt waren:Souterrain, Parterre, Mezzanin; es folgten die römischen Ziffern von eins bis fünf. »G’schamster Diener«, sagte der kleine alte Mann in der Dienstuniform. (Er sagte es wirklich genau so – »g’schamster Diener«. Dabei näselte er auch noch.) »Bitte, wohin darf ich die Herrschaften führen?«
    Offenbar handelte es sich bei diesem Aufzug um ein Relikt aus einer längst verwehten Epoche; dabei hatte man die Wende zum neuen Jahrtausend doch auch im I. Bezirk längst überschritten! Es war ein bisschen unglaublich, schließlich lebte man im Zeitalter des Mondflugs, auch der Mikrowellenherd war längst erfunden. Aber wenn die anderen Fahrgäste über solch altmodischen Luxus staunten, ließen sie sich das jedenfalls nicht anmerken. Ein junger Chassid im Kaftan, der als Letzter zugestiegen war, sagte nonchalant: »Dritter.« Und »Fünfter Stock« wünschte sich der Herr mit den melancholischen Kulleraugen, der dauernd mit dem Seidentaschentuch über seine Spiegelglatze fuhr. Dorthin, also in den Fünften, wollten er und sein Freund auch. Es schoss ihm durch den Kopf, dass er den Herrn mit der Glatze schon irgendwo einmal gesehen hatte, nur wollte ihm partout die Schublade seines Gedächtnisses nicht einfallen, in der er die verstaubte Fotografie mit seinem Gesicht aufbewahrte. Wenn dieser Aufzug nun gar kein Aufzug war, überlegte er eine Sekunde später, sondern eine Zeitmaschine – in welcher Richtung bewegten sie sich jetzt? Fuhren sie beschleunigt der Zukunft entgegen, weil die Reise nach oben ging? Sollte man also behaupten, sie bewegten sich zeitaufwärts? »Zeitabwärts« würde dann in Richtung Vergangenheit bedeuten. Aber vielleicht hatten solche der räumlichen Vorstellungswelt entlehnten Begriffe überhaupt keinen geraden Sinn, wenn man sie auf andere Dimensionen übertrug. Der Aufzug ächztein den Seilen. Im dritten Obergeschoss blieb er mit einem Ruck stehen, der chassidische Jude stieg mit wippenden Schläfenlocken aus. Im fünften Stock äußerte das livrierte Männlein: »Endstation, Herrschaften, habe die Ehre.« Dass die Filmindustrie diesem Faktotum noch zu keiner Karriere verholfen hatte, war eine schreiende Ungerechtigkeit, dachte er.
    Aber nun kam der Augenblick, vor dem er sich eigentlich schon seit dem Morgen gefürchtet hatte; jedenfalls fürchtete er ihn, seit er zusammen mit seinem Freund den Stephansplatz überquert, seit er den großen gotischen Dom im Vorübergehen kaum eines Blickes gewürdigt hatte, und die Furcht fuhr ihm noch gewaltiger in beide Knie, als sie in die Rotenturmstraße mit ihren hohen Wohnpalästen einbogen – mit einem Schock wurde ihm bewusst, welch vornehme Adresse die Einladung meinte, der sie an diesem drückend heißen Sonntagvormittag im August gefolgt waren. Das Schlimmste daran: Die Einladung galt im Grunde nur seinem Freund und gar nicht ihm. Sein Freund, der

Weitere Kostenlose Bücher