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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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sollen …
    Wie ein Blitz kamen Ida und Gita über Anna. Das Fenster quoll von einem Moment zum anderen mit silbernem, von Regenbogenfarben durchfurchtem Licht über, und ehe ich die Hände vor die Augen reißen konnte, verwandelte sich Anna in eine weiße Silhouette.
    Unsere Körper verloren den Kontakt, ich torkelte rückwärts, fiel auf das Bett und blieb liegen, als würde ich dort schlafen, träumen, delirieren. Ich öffnete die Augen, die Welt war voller seltsamer Ungeheuer oder Maschinen aus Licht. Ida und Gita kamen als flirrende Regenbogenwesen durchs Fenster geklettert, Retter und Zerstörer in einem. Immer wieder ballte sich das Licht zu riesigen quadratischen Pixeln und regnete durch die Luft wie ein magnetischer Sturm. Einige davon trafen mich. Sie brannten wie Feuer.
    Anna war vor dem Fenster zu Boden gesunken, ihre warme, braune Haut fahl und blass. Ich rief ihren Namen. Sie reagierte kaum. Es schien, als hätte sie alles vergessen, mich, sich, die Welt. Als sie den Kopf schließlich doch in meine Richtung drehte, wie um nachzusehen, wer diesen sinnlosen Lärm veranstaltete, toste absolute Leere in ihren Augen wie ein Orkan. Nur das Knistern und Rumpeln war noch da, zigfach verstärkt, ohrenbetäubend jetzt.
    ‚Das ist doch kein kleiner Tod!‘, brüllte ich hustend und voll ohnmächtiger Wut. ‚Das ist doch kein … kleiner Tod!‘
    Ida oder Gita oder eine ihrer Schwestern setzte sich auf mein Bett. ‚Hier hängt noch jemand im Bann der Dämonin fest‘, bemerkte sie. Mitleidig? Spöttisch? ‚Möchtest du als Trost mit uns schlafen? Du wirst eine völlig neue Bandbreite an Reizen erleben.‘
    ‚Ich habe schon …‘ völlig neue Reize erlebt , wollte ich sagen. Bis ihr kamt. Mit eurem viel zu großen kleinen Tod.
    Ein wirbelndes Pfeifen zerriss mir beinahe das Trommelfell. Ida/Gita hatte einen ihrer perfekten schlanken Arme mit den kurzgeschnittenen Fingernägeln ausgestreckt. Die weiße, leere Hülle, die einmal Anna gewesen war, wickelte sich um diesen Arm, als wäre sie aus Gummi. Dann schlug jemand die höchste Saite einer riesigen Gitarre an, und Annas Körper zerriss in zwei Hälften.
    Ich verlor das Bewusstsein.“
    .
    Jürgen keuchte jetzt, als wäre er ein paar Kilometer gejoggt. Seine Hände auf dem Lenkrad zitterten. Wenn seine Blicke kurz zu ihr herüberzuckten, schrien sie: Es ist die Wahrheit! Ich habe das wirklich erlebt!
    Sein Atem hatte sich etwas beruhigt, da sprach er weiter.
    .
    „Der Arzt schob es auf den beruflichen Stress. Wahnvorstellungen, Schwächeanfalle, so etwas kommt vor. Erotische Halluzinationen sind nicht so selten wie man denkt. Vielleicht, meinte er mit väterlichem Lächeln, sollte ich mir eine Freundin suchen. Stress abbauen. Ich wisse schon.
    Ich hatte die Polizei informiert. Aber für jene Nacht stand keine Anna auf der Gästeliste des Hotels. Auch keine Ida. Keine Gita. Ja, eine alte Dame bezeugte, mich mit einer dunkelhaarigen Dame im Restaurant gesehen zu haben. Beschreiben? Nein, beschreiben konnte sie sie nicht.
    Auch Wochen später erwachte ich nachts zitternd, weinte Annas Namen in Träume und ins Wache hinein, schwor, sie zu bewahren vor dem Tod, den sie klein genannt hatte. Nichts war klein daran, seiner Erinnerungen beraubt, aufgewickelt, zerrissen zu werden. Laut Anna hatte Olgas Seele tiefe Kratzer aufgewiesen. Ich möchte wetten, Annas Seele war schneeweiß gewesen, als sie starb.
    Monate, nachdem Anna mir von silbernem Regenbogenlicht entrissen worden war, begegnete ich ihr wieder. Sie stand an einem Fahrkartenautomaten.“
    .
    Isabel stöhnte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nichts“, sagte sie.
    .
    „‚Anna!‘, stieß ich hervor.
    ‚Oh.‘ Sie lächelte mich an. ‚Sie kennen meine Schwester!‘
    Jetzt erkannte ich selbst, dass es nicht Anna war. Ihre Gesichtszüge waren noch weicher, ihre Augen von einem matten, aber tiefen Braun, ihre Bewegungen, ihre Mimik, ihre Stimme, einfach alles an ihr erinnerte an Anna, wirkte jedoch … geglättet, abgeschliffen, schwammig, weniger klar. Wenn sie lachte, sah es ein bisschen wie Weinen aus. Wenn sie hustete, klang es ein wenig nach Kichern, und wenn sie sprach, war es, als rede ein Fremder leise und dunkel im Hintergrund mit. Ihre ganze Persönlichkeit wirkte seltsam verschwommen, wie eine Suppe, deren leckere Gemüseeinlage man zu einem Brei verkocht hatte. Auch das Knistern und Poltern war zu einem dumpfen Rauschen verschmolzen.
    Und doch war sie beinahe noch hübscher als Anna. Makelloser.

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