Wahnsinns Liebe
vorbeigeht, als gäbe es ihn nicht. Er steht gelähmt und glotzt Webern an. Seine Unterlippe bebt, sein Gesicht wird röter, seinen Körper durchläuft eine krampfartige Bewegung. Die Eruption kündigt sich an. Doch es bleibt still, bis Mathilde in ihrem Cape wieder an Gerstl vorbeigeht und sich mit gesenktem Kopf, ohne den Blick zu heben, Webern anschließt, als hätte er sie verhaftet.
Benommen, aber schnell geht sie vor Webern die Treppe hinunter, auf die Straße, auf die andere Straßenseite. Dort bleibt sie stehen, hebt den Kopf und schaut nach oben. Sie weiß, daß sie ihn nicht sehen kann, denn das Atelier hat sein Fenster zur anderen Seite. »Kommen Sie, los, kommen Sie. Drehen Sie sich nicht um, denken Sie an Sodom und Gomorrha.«
Webern legt seinen Arm um ihre Schultern und nötigt sie, weiterzugehen. In diesem Augenblick geht Gerstl ins Bad und nimmt das große Rasiermesser von der Wand, das neben dem Waschbecken hängt. Ruhig prüft er die Klinge, ob sie scharf genug ist. Dann schneidet er sich die Haare ab. Als Webern und sein |229| Häftling die Mitte der Liechtensteinstraße erreicht haben, auf halbem Weg zwischen Mathildes Heimat und ihrem Zuhause, stellt Gerstl einen Hocker vor den großen Spiegel und setzt sich, den Skizzenblock auf den Knien, davor. »Ein Spiegel«, sagt er leise, »ist ein perfektes Mordinstrument.« Hektisch beginnt er zu zeichnen.
Und als Mathilde schließlich die Wohnung in der Liechtensteinstraße 68 betritt, einen Flur, in dem sich schmutzige Teller stapeln, als sie eintaucht in den Dunst aus kalter Asche, abgestandenem Bier, Qualm, feuchtem Mief und Männerschweiß, ist Gerstl bereits fertig mit seinem Selbstporträt.
»Sieht so das Opfer aus?« sagt er halblaut vor sich hin. »Oder der Henker?«
Es stinkt. Ein beißender süßlicher Gestank nach verbranntem Haar, der ihm übel werden läßt. Gerstl öffnet das Fenster. Alle Spuren müssen vernichtet werden. Nichts, gar nichts sollen sie finden. Niemand soll beweisen können, was hier vor sich gegangen ist.
Er hat neben dem Waschbecken auf einem Stuhl alles angehäuft, was wegmuß, bevor er, der Sträfling, seinen Ausbruch beginnt. Briefe, Notizen, drei Damenstrümpfe – warum eigentlich drei? –, ein dünnes Batisttuch, vier Haarnadeln, sechs Fotos, zwei kleine Kritzeleien auf Rechnungsrückseiten, die andere wohl obszön fänden, eine Aktzeichnung, nur briefbogengroß, aber sie ist erkennbar, einwandfrei. Sogar an dieser |230| eigentümlichen Form ihres Schamhaars, das den Umriß von Zypern hat.
Fünfzig Tage sind es nun, daß er in Einzelhaft lebt. Vor vierzig Tagen hat er zum letzten Mal mit jemandem gesprochen; er hatte sich mit seinem Bruder im Stadtpark verabredet, bei der kranken Buche, und behauptet, er werde sich für eine Weile in Klausur zurückziehen. Vier Tage danach hat er die letzten beiden Zeichnungen von sich gemacht, Feder, Pinsel und Tusche auf Papier. Die zweite war nötig gewesen, weil er auf der ersten noch beinahe etwas Kämpferisches hatte, erst beim zweiten Versuch war es ihm gelungen, die schwerste aller Müdigkeiten auszudrücken, der das Sprechen unmöglich ist. In diesem Bild waren seine Absichten zu lesen. Vor zwanzig Tagen hat er zum letzten Mal seine Wohnung verlassen und einen Brief an seine Mutter aufgegeben, ohne Absender freilich. Sie möge sich keine Sorgen machen, er müsse etwas sehr Wichtiges, etwas Lebenswichtiges zu Ende bringen. Seither kein Ausgang, kein Besuch, nichts von außen, nicht mal eine Zeitung. Alles, was es gab, hat er aufgegessen und ausgetrunken. Die letzte große Kartoffel, aus der die grünen Auswüchse wie Würmer heraussprossen, hat er gestern verbraucht. Sie war herzförmig und überraschte ihn mit einem köstlichen pilzigen Geschmack. Heute war das letzte Viertel von dem Apfelessig dran, den Prillingers Frau ihm zugesteckt hatte, und das Endstück einer sehr harten Salamihälfte. An seinem Geburtstag, am 14. September, hatte er sie draußen im Prater einem der mit hohem Tenor rufenden, Scheiben absäbelnden Salamihändler abgekauft, während Mathilde Karussell fuhr – Karussell flog, besser gesagt. Als sie dann ankam, wacklig noch und zufrieden, hatte der |231| Salamihändler sie geküßt. Selten hatte er jemandem gleich eine halbe Wurst verkauft. Das war einen Tag vor dem gewesen, an dem Webern Mathilde holte.
Die Salami hatte heute beim Kauen gequietscht – ein leuchtend gelbes Geräusch, sehr schön eigentlich.
Jetzt war alles aus. Bis auf den
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