Wahnsinns Liebe
flüstert sie. »Und ich kriege keine Luft, ich kriege keine Luft. Ich glaube, ich sollte gehen.«
In diesem Augenblick kippt in der Liechtensteinstraße ein Stuhl um.
Es ist ein lautes Geräusch.
Doch niemand hört es.
»Das geht vorbei«, sagt er. »Du wirst schon sehen. Heute nachmittag hast du diesen … diesen Zustand hinter dir.« Er geht zum Fenster.
»Ich verstehe das gar nicht. Das Konzert gestern war doch wirklich ein Erfolg. Kein Grund zur Aufregung, oder?«
Mathilde liegt auf der Chaiselongue in Schönbergs Arbeitszimmer. Durch das Fenster kommt ein goldenes Licht, mild und versöhnlich.
»Wahrscheinlich sollten wir einfach in die Kälte hinaus, ein paar Schritte, das würde dir guttun«, sagt |238| Schönberg und schaut auf die Fassaden gegenüber, die in diesem Gemäldelicht ihre Schäbigkeit verlieren. »Was für ein Licht«, sagt er.
Mathilde hat die Augen geschlossen, aber sie sieht es rot durch die Lider.
Dann schweigen beide.
Die Klingel wird grob bedient. Sie hört Schönberg hinausgehen.
Kurz drauf hört sie Weberns Stimme an der Tür. Und dann Arnolds.
»Nein, sagen Sie es ihr, das ist besser.«
Webern sieht erfrischt aus. Er zieht seinen rechten Handschuh ab und legt seine Hand auf Mathildes Schulter. Sie fährt bei der Berührung zusammen und schiebt die Hand weg.
Während Webern spricht, bleibt sie reglos liegen.
»Ja, es ist grausam. Es ist rücksichtslos und grausam, was er getan hat«, sagt er. »Unfaßlich grausam gegen uns alle.«
Mathilde hat sich aufgesetzt und sieht ihn ruhig an.
»Nein«, sagt sie. »Gegen Sie bestimmt nicht.«
Webern wird rot. »Aber gegen Sie in jedem Fall«, sagt er scharf.
Doch Mathilde scheint ihn nicht mehr zu hören. Sie ist aufgestanden, schwerfällig, langsam, nicht wie eine Frau von einunddreißig. Jahre totschlagen, denkt sie, ist doch viel grausamer, als sich selbst totzuschlagen.
Nach vorn gebeugt, fast ohne die Füße vom Boden zu heben, geht sie zur Tür.
»Wo willst du hin?« fragt Schönberg.
»Nach nebenan.«
»Aber was machst du da?«
»Ich werde einfach nebenan sein«, sagt sie.
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1921 fährt Schönberg gegen Mathildes Willen mit ihr nach dreizehn Jahren Unterbrechung wieder an den Traunsee. Der Blick vom Feriendomizil geht hinüber auf das Ufer, an dem alles geschah. Sie ist bereits schwer krank. Im Jahr darauf plant Schönberg noch einmal genau dort den Urlaub. Mathildes Zustand verschlechtert sich. 1923 nötigt Schönberg seine Frau ein drittes Mal, am Traunsee Sommerurlaub zu machen. Er muß abgebrochen werden. Am 18. Oktober um zwölf Uhr mittags stirbt Mathilde mit sechsundvierzig Jahren an Nierenkrebs. Ihr Bruder Alexander Zemlinsky nimmt nicht an der Beerdigung teil. Sein Verhältnis zu Schönberg kühlt drastisch ab, als der ein dreiviertel Jahr nach Mathildes Tod Gertrud Kolisch heiratet, die Schwester des erfolgreichen Geigers Rudolf Kolisch, den er schon lange kennt und in Komposition unterrichtet hat. Die Schwester will er erst nach Mathildes Tod kennengelernt haben. An Zemlinsky schreibt er:
»… und ich glaube nicht, daß Mathilde mir böse sein kann.«
Die Liebesgeschichte von Mathilde und Gerstl wird mit Schweigen versiegelt. Und alle Spuren werden gründlich vernichtet.
|240| Die meisten Arbeiten Richard Gerstls, die im Roman angesprochen werden, können unter www. dva. de besichtigt werden.
Informationen zum Buch
»Um drei ahnt sie noch nicht, daß sich von diesem Tag an ihr Leben verändern wird.« – Sie ist achtundzwanzig Jahre alt, hochmusikalisch, verheiratet mit einem mittellosen Genie und führt ein Leben in seinem Schatten. Ihr Mann behandelt sie wie einen Gegenstand, und den Glauben an die Liebe hat Mathilde Schönberg längst aufgegeben. Bis sie Richard Gerstl begegnet und ein tödliches Drama seinen Lauf nimmt . . . Mit psychologischem Spürsinn begibt sich Lea Singer auf die Fährte einer dramatischen und wahren Geschichte im Wiener Künstlermilieu. Sie zeigt die Schattenseite jener vermeintlich glänzenden Zeit und erzählt von einer stillen Frau zwischen zwei genialen Männern. – »Eine sinnlich-tödliche Fin-de-Siècle-Geschichte aus Wien, voller Poesie und Schmerzen.« (Hamburger Morgenpost)
Informationen zur Autorin
Lea Singer
studierte Kunstgeschichte, Musik- und Literaturwissenschaft. Sie ist Sachbuchautorin und Publizistin und lebt in München. 2000 erschien ihr erfolgreiches Romandebüt ›Die Zunge‹. Es folgten 2003 der Roman ›Wahnsinns Liebe‹ sowie 2005
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