Waisen des Alls
Viele dunkle und schreckliche Möglichkeiten gehen aus der Nicht-Zeit der Zukunft in die trübe Peripherie der Werde-Zeit über. Der Gang der Ereignisse hat unserem Gegner genutzt und dir eine noch größere Verantwortung aufgebürdet.«
»Aber, Großer Ältester, ich bin ein Gefangener und …«
»Hör mich an! Ein Ritter der Legion der Avatare, derselbe, der Waonwir in Besitz genommen und den Warpbrunnen aktiviert hat, kehrt jetzt dessen Flussrichtung um. Es wird mindestens drei Tage dauern, bis die Veränderung das dunkle, tiefe Gefängnis im Abgrund erfasst, und
ebenso lange werden die Überlebenden der Legion brauchen, um ihn zu durchmessen. Es sieht so aus, als ob nur du und dieser Mensch dies verhindern könntet.«
Chel war verblüfft und verärgert darüber, dass er dieses Grauen verhindern sollte, obwohl doch sein Geist und sein Körper Stück für Stück zerpflückt wurden.
»Bitte, Großer, kannst du uns zur Flucht verhelfen? Wenn ich die Apparate und Implantate loswürde …«
»Aber, Cheluvahar, du darfst dich nicht wehren, sondern musst dich fügen. Die musst die Maschine willkommen heißen, um sie zu besiegen!«
Auf einmal überkam ihn aufrichtiger Zorn.
»Wie soll ich das anstellen? Soll ich mich erst in einen Maschinensklaven verwandeln, um …«
»Wie ich sehe, muss ich dich erst überzeugen. Seher - pass auf!«
Auf einmal wurde es blendend hell, dann klärte sich Chels Blick, und er sah eine dunkle, wolkenverhangene Landschaft, eine ausgedehnte Fläche von Baumskeletten auf der verkohlten Oberfläche von Darien. Dann aber veränderte sich seine Perspektive. Er flog über den düsteren Wald hinweg und sah, dass die Bäume aus Metall waren und dass Tunnelgänge in ihre Wurzeln führten. Menschen und Uvovo kamen und gingen, doch ihre Gesichter waren leer und ihre Körper ein Flickwerk kränklich blasser Haut und grauer Maschinenerweiterungen. Chel sah auf den ersten Blick, dass der Metallwald eine perverse Parodie Segranas war, eine scheußliche Kopie ohne jedes natürliche Leben. Er flog weiter, bis er zu den Gipfeln und Graten des Kentigerngebirges gelangte. Dahinter erstreckte sich die Küstenebene, eine verkohlte, vergiftete Fläche, und als er sich zur Schulter des Riesen umwandte, war da nichts. Der obere Abschnitt des Vorgebirges war verschwunden,
die Warpbrunnenkammer nach oben hin offen. Die Wolken verdüsterten sich, Regen fiel, Donner grollte …
Unvermittelt befand er sich wieder in der Kammer, in der Metallzelle, Gefangener und Versuchsobjekt, aber nicht allein.
»So schwer dir die Vorstellung auch fallen mag«, sagte der Pfadmeister, »es dräuen weit grausigere Zukünfte, in denen unerbittliche Tyranneien gnadenlose Kriege führen, welche die Sterne verzehren.«
»Was soll ich tun?«, fragte Chel bedrückt.
»Benutze die Gaben, die Segrana dir geschenkt hat«, antwortete der Pfadmeister. »Benutze sie klug und mit List und Tücke. Wehre dich nicht gegen die Maschinenimplantate, aber nutze deine Seheraugen zum Sehen und zur Veränderung. Beobachtung verändert das Beobachtete.«
Chel hatte Schmerzen im Hals, in Armen und Brust, als er zum armen Rory hinübersah, dessen Augen blicklos umherhuschten.
Ich tu’s für Rory, dachte er.
»Wenn du Erfolg hast, wird vielen, vielen Lebewesen ein todähnliches Leben erspart bleiben.«
»Aber es entsteht neues Potenzial«, wurde Chel auf einmal bewusst. »Potenzial für das Gute wie das Böse.«
»Damit werden sich die, welche noch kommen werden, auseinandersetzen müssen, Chel. Du musst dich den gegenwärtigen Herausforderungen stellen.«
Der Pfadmeister verschwand, wie wenn Nebel sich verflüchtigt. Chel betrachtete Rory, der in maschinenerzeugten Wahnvorstellungen gefangen war, dann öffnete er seine Seheraugen und lenkte ihren entschleiernden Blick nach innen.
Julia
Alles, was sie sah, war kalte, öde Leere, still und unteilbar.
Sie erinnerte sich, dass man sie in die Virtualitätskammer geschleppt hatte, von den Beruhigungspflastern ganz erschlafft. Beinahe hätte sie gelacht, als man sie in den Tank steckte und mit dem Bioregnetz verband. Dann wurde das Kortex-Interfacefeld eingeschaltet, und ihr vergingen das Lachen, der Tank, Talaveras Gesicht und jede Empfindung.
Und dann kam die Leere, doch jetzt, da sie darüber nachdachte, kam ihr die kalte, öde Leere nicht mehr ganz so leer vor. Eine undeutliche Trennungslinie führte hindurch, die allmählich an Schärfe und Kontrast und auch Perspektive gewann. Die Linie war
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