Wallander 04 - Der Mann, der lächelte
und schrie, der Fahrer solle anhalten. Doch der Mann am Steuer beschleunigte erschrocken. Wallander hob resigniert die Arme und drehte sich um. Die Gulfstream rollte bereits zur Startbahn. Nur noch hundert Meter, dann würde sie sich, sobald der Pilot die Genehmigung erhalten hatte, in die Lüfte erheben.
In der Nähe parkte eine Elektrozugmaschine zum Transport von Gepäck. Wallander hatte keine Wahl mehr. Er kletterte auf den Fahrersitz, schaltete den Motor ein und fuhr auf die Startbahn |370| zu. Im Rückspiegel sah er, daß er eine ganze Wagenkette hinter sich herzog. Zum Anhalten war es zu spät.
Die Gulfstream hatte ihre Startposition bereits eingenommen. Hinter ihm stürzten die Gepäckwagen um, als er über den Grasstreifen zwischen Bereitstellungsfläche und Startbahn rumpelte.
Endlich erreichte er die lange Startbahn, auf der die schwarzen Bremsspuren der Flugzeuge wie Risse wirkten. Er fuhr genau auf die Gulfstream zu, deren Nase in seine Richtung wies. Als er noch etwa zweihundert Meter entfernt war, sah er, daß sich die Maschine in Bewegung setzte. Aber er wußte bereits, daß er es geschafft hatte. Bevor das Flugzeug die zum Abheben notwendige Geschwindigkeit erreicht hätte, würde es mit dem Gepäckkarren kollidieren.
Wallander wollte bremsen, doch der Tritt auf das Pedal blieb ohne Ergebnis. Die Zugmaschine fuhr nicht schnell, aber doch schnell genug, um die Gulfstream zu beschädigen. Wallander sprang ab und stürzte. Ein Gepäckwagen verletzte ihn am Hinterkopf.
Als er aufstand, hatte der Pilot die Motoren abgestellt, um keine Brandkatastrophe zu riskieren. Wallander war wie betäubt, Blut rann ihm in die Augen. Krampfhaft hielt er nach wie vor die Pistole in der Hand.
Als sich die Tür des Flugzeugs öffnete und die Treppe herabgelassen wurde, hörte er, daß sich hinter seinem Rücken eine Armada von Sirenen näherte.
Wallander wartete.
Dann stieg Alfred Harderberg aus dem Flugzeug.
Wallander fiel auf, daß sich etwas verändert hatte.
Dann begriff er, was es war.
Das Lächeln war verschwunden.
Ann-Britt Höglund sprang aus einem der ersten Polizeiwagen. Wallander wischte sich das Blut aus den Augen.
»Bist du verletzt?« fragte sie.
Wallander schüttelte den Kopf. Er hatte sich auf die Zunge gebissen, das Reden fiel ihm schwer.
|371| »Am besten, du rufst Björk an«, sagte sie.
Wallander schaute sie lange an. »Nein«, sagte er. »Das übernimmst du. Und kümmere dich um Alfred Harderberg.«
Dann wandte er sich zum Gehen.
»Wohin willst du?« fragte sie.
»Nach Hause, schlafen. Ich bin todmüde. Und traurig. Obwohl wir es geschafft haben.«
Etwas in seiner Stimme bewirkte, daß sie nichts mehr sagte.
Seltsamerweise versuchte niemand, ihn aufzuhalten.
|372| 18
Am 23. Dezember, einem Donnerstag, ging Wallander morgens unschlüssig zum Österportstorg in Ystad, um einen Christbaum zu kaufen. Es war ein diesiger Tag; es sah nicht so aus, als würde Schonen 1993 weiße Weihnachten erleben. Lange suchte er, unschlüssig, was er eigentlich haben wollte. Endlich entschied er sich für ein Bäumchen, das auf dem Tisch Platz hätte. Nachdem er es in die Mariagata getragen und vergeblich nach dem kleinen Christbaumständer gesucht hatte – wahrscheinlich hatte ihn Mona nach der Scheidung mitgenommen –, setzte er sich in die Küche und listete auf, was er noch für das Weihnachtsfest besorgen mußte. In den letzten Jahren war sein Lebensumfeld immer dürftiger geworden. In den Schränken und Schubladen fehlte es an fast allem. Schließlich hatte er eine ganze Seite vollgeschrieben. Als er das Blatt umdrehte, sah er, daß dort schon etwas vermerkt war. Ein Name.
Sten Torstensson.
Er erinnerte sich, daß dies die erste Aufzeichnung war, die er an jenem Morgen vor fast zwei Monaten gemacht hatte, als er in den Dienst zurückgekehrt war. Er erinnerte sich, wie er am Tisch gesessen hatte und wie ihm die Todesanzeige in
Ystads Allehanda
aufgefallen war. In knapp zwei Monaten hat sich alles verändert, dachte er. Jener Morgen schien zu einer anderen Zeit zu gehören.
Alfred Harderberg und seine beiden Schatten waren verhaftet worden. Nach Weihnachten würde Wallander weiter an dem Fall arbeiten; die Ermittlungen waren längst noch nicht abgeschlossen.
Er fragte sich, was mit Schloß Farnholm geschehen würde.
Und er nahm sich vor, Sten Widén anzurufen. Er wollte sich erkundigen, wie Sofia das Erlebte verkraftet hatte.
|373| Plötzlich stand er auf, ging ins Badezimmer
Weitere Kostenlose Bücher