Wallander 04 - Der Mann, der lächelte
daß er jeden Morgen nach Grenen zum endlosen Strand hinausradeln konnte. Auf dem Gepäckträger hatte er eine Plastiktüte mit belegten Broten, so daß er erst spät am Abend zurückzukommen brauchte. Die anderen Gäste waren ältere Paare oder Alleinstehende, und in der Pension war es still wie im Lesesaal einer Bibliothek. Zum ersten Mal seit über einem Jahr konnte er wieder richtig schlafen, und er merkte, daß die Sümpfe in seinem Inneren langsam austrockneten.
Während dieses ersten Aufenthalts in Skagen schrieb er drei Briefe. Der erste ging an seine Schwester Kristina. Sie hatte sich im vergangenen Jahr oft nach seinem Befinden erkundigt. Obwohl er gerührt war, daß sie sich um ihn sorgte, hatte er sich selten dazu durchringen können, ihr zu antworten oder sie anzurufen. |19| Komplizierter wurde die Sache auch dadurch, daß er sich schwach erinnern konnte, ihr eine verworren formulierte Ansichtskarte aus der Karibik geschickt zu haben – als er schwer betrunken war. Sie hatte nie ein Wort darüber verloren, und er hatte nie danach gefragt. So hoffte er, vielleicht so betrunken gewesen zu sein, daß er nicht die richtige Adresse geschrieben oder die Briefmarke vergessen hatte. In jenen Tagen in Skagen schrieb er ihr also, im Bett liegend, kurz vor dem Einschlafen, seine Aktentasche als Unterlage benutzend. Er versuchte, das Gefühl von Leere, Scham und Schuld zu schildern, das ihn verfolgte, seit er im Jahr zuvor einen Menschen getötet hatte. Auch wenn es eindeutig Notwehr war und sich nicht einmal die meist polizeifeindliche und sensationshungrige Presse auf ihn gestürzt hatte – er merkte, daß er die Last der Schuld nicht abwerfen konnte. Vielleicht würde er es eines Tages lernen, damit zu leben.
»Ich stelle mir vor, daß ein Teil meiner Seele durch eine Prothese ersetzt worden ist, mit der ich noch nicht umgehen kann«, schrieb er. »Manchmal, in düsteren Stunden, zweifle ich daran, ob ich es jemals lerne. Aber noch habe ich nicht ganz aufgegeben.«
Den zweiten Brief richtete er an die Kollegen bei der Polizei von Ystad. Als er ihn schließlich in den roten Kasten vor der Skagener Post warf, war ihm klar, daß viele Unwahrheiten darin standen. Dennoch hatte er ihn abschicken müssen. Er bedankte sich für die Stereoanlage, die die Kollegen ihm im Sommer zuvor geschenkt hatten, von gesammeltem Geld. Er entschuldigte sich, daß er sich erst jetzt meldete, und bis zu diesem Punkt war alles ehrlich gemeint. Doch der Schluß des Briefes war eher eine Beschwörung: Er sei auf dem Weg der Besserung; er hoffe, bald wieder im Dienst zu sein. Genau das Gegenteil war der Fall.
Der dritte Brief war für Baiba in Riga bestimmt. In den vergangenen Jahren hatte er ihr ungefähr jeden zweiten Monat geschrieben. Er betrachtete sie allmählich als seine private Schutzheilige, und aus Angst, sie zu beunruhigen, verschwieg er, was er fühlte – beziehungsweise zu fühlen glaubte. Er war |20| in der Richtung verunsichert; die andauernde Ohnmacht hatte sein Denken deformiert. In kurzen, klaren Momenten, meistens dann, wenn er sich am Strand aufhielt, ahnte er, daß er und Baiba keine gemeinsame Zukunft hatten. Er war mit Baiba ein paar Tage in Riga zusammengewesen. Sie hatte ihren ermordeten Mann geliebt, den Polizeihauptmann Karlis. Warum, in Herrgotts Namen, sollte sie plötzlich einen schwedischen Kommissar mögen, der nur seine Pflicht getan hatte, wenn auch auf unkonventionelle Art und Weise? Aber es bereitete ihm keine größeren Probleme, diese Augenblicke der Klarheit zu verdrängen. Er wollte einfach nicht verlieren, was er, wie er im Innersten wußte, nie besessen hatte. Baiba, der Traum von Baiba, war seine letzte Reserve; die letzte Chance, die er verteidigen mußte, auch wenn es sich nur um eine Illusion handelte.
Er blieb zehn Tage in der Pension. Auf dem Heimweg nach Ystad beschloß er, sobald wie möglich zurückzukommen. Schon Mitte Juli war er wieder da, und die Witwe gab ihm sein vertrautes Zimmer. Wieder lieh er sich das Fahrrad und verbrachte seine Tage am Meer. Nun wimmelte es am Strand allerdings von Urlaubern, und er kam sich zwischen all diesen lachenden, spielenden und planschenden Menschen wie ein Störenfried vor. Es war, als hätte er sich ein ganz persönliches, ein allen anderen unbekanntes Revier eingerichtet, draußen auf Grenen, wo sich die beiden Meere begegnen. Dort versah er seinen einsamen Streifendienst, über sich selbst wachend, einen Ausweg aus seinem Elend suchend.
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