Die Herren der Unterwelt 03 - Schwarze Lust
1. KAPITEL
Reyes stand schwankend auf der Dachkante der Budapester Burg, fünf Stockwerke oberhalb der Erde, und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Über ihm tropfte rötlich gelbes Mondlicht aus dem Himmel, Blut mit funkelnd goldenen Einsprengseln, Dunkelheit durchsetzt von Lichtpunkten, frische Wunden in der endlosen Ausdehnung des samtig schwarzen Universums.
Er starrte in die finstere Leere, die sich unter ihm ausbreitete, auf den Boden, der spöttisch seine Arme nach ihm ausstreckte, als könne er es nicht erwarten, ihn zu umarmen.
Nach Tausenden von Jahren muss ich mir das hier immer noch antun.
Ein eisiger Wind zauste in seinem Haar und prickelte auf seiner nackten Brust, dort, wo der verhasste Schmetterling bis hoch zum Hals eintätowiert war und an das vergossene Lebensblut erinnerte. Es war nicht sein Blut gewesen, sondern das seines Freundes. Und jedes Mal, wenn seine Haare über dieses gespenstische Sinnbild von Leben und Tod strichen, war es, als würde jemand Öl ins lodernde Feuer seiner Schuld gießen.
Wie oft war er schon hierhergekommen und hatte Sehnsüchten nachgehangen, die sich niemals erfüllen würden. Wie oft schon hatte er hier um Sündenerlass gefleht, um Erlösung von seinen täglichen Qualen und seinem inneren Dämon, der für all das verantwortlich war … um Erlösung von seinem unbezwingbaren Drang zur Selbstverstümmelung.
Doch sein Flehen war nicht erhört worden. Und würde nie erhört werden. Er lebte in dem Zustand, in dem er zu leben verdammt war – und so würde es auf ewig bleiben. Das Einzige, was sich ändern würde, waren seine Höllenqualen – die würden immer stärker werden. War er früher ein unsterblicher Krieger der Götter gewesen, so war er jetzt ein Herr der Unterwelt – besessen von einem der vielen Dämonen, die früher einmal in dimOuniak eingesperrt waren. Was für ein Absturz –aus der Gunst in die Schmach, aus dem Glück in die fortwährende Qual. Die Verwandlung eines Lieblings in einen Geächteten.
Er knirschte mit den Zähnen. Die Sterblichen kannten dimOuniak als Büchse der Pandora. Für ihn hingegen war dimOuniak die Ursache für seinen Untergang. Seine Freunde und er hatten die Büchse vor Jahrhunderten geöffnet, forsch und aufmüpfig – und seitdem waren sie selbst zu einem Teil von ihr geworden, denn seitdem beherbergte jeder von ihnen einen Dämon in seinem Innern.
Spring, flehte ihn sein Dämon an.
Sein Dämon: Schmerz. Sein ständiger Begleiter. Ein drängendes Wispern in der hintersten Ecke seines Verstandes und seiner Seele; die dunkle Seite in ihm, die sich nach unaussprechlichem Bösen sehnte; die übernatürliche Kraft, gegen die er Tag für Tag, Minute für Minute ankämpfte.
Spring.
„Jetzt noch nicht.“ Noch ein paar Sekunden der Vorfreude – Vorfreude auf den Aufprall, bei dem seine Knochen zerschmettern würden. Er musste lächeln bei dem Gedanken. Die messerscharfen Knochensplitter würden seine geschwollenen Organe zerschneiden, würden sie zum Platzen bringen wie kleine Wasserbomben. Seine Haut würde bersten unter dem Druck all der Flüssigkeit – und diesmal würde das vergossene Lebensblut sein eigenes sein. In Todesqualen, in wonnigen Todesqualen würde er sich verzehren.
Zumindest für kurze Zeit.
Sein Lächeln erstarb. Innerhalb weniger Tage – vielleicht, wenn es ihm nicht gelang, sich schwer genug zu verletzen, sogar innerhalb weniger Stunden – würde sich sein Körper selbst heilen, würde komplett regenerieren. Völlig intakt und unversehrt wür de er dann auf stehen, und in seinem In nern wür de sich Schmerz erneut zu Wort melden, zu laut und gebieterisch, um ignoriert zu werden. Aber in diesen wenigen Augenblicken, die seine Knochen bräuchten, um sich wieder zu richten, seine Organe, um wieder an ihren angestammten Platz zurückzuwandern, und seine Haut, um zu verschorfen, in diesen wenigen Augenblicken würde er im Nirwana sein. Im Paradies. Würde er in süßer Ekstase leben, sich vor Wonne in den Schmerzen aalen – waren sie doch seine einzige Quelle der Freude! Und sein Dämon würde vor Zufriedenheit schnurren; sprechen würde er nicht, denn der Schmerz würde ihn viel zu sehr berauschen. Und Reyes könnte endlich einen Zustand glückseliger Ruhe genießen.
Jedenfalls für einen kurzen Moment. Immer dauerte alles nur einen kurzen Moment.
„Nicht nötig, mich daran zu erinnern, wie flüchtig die Momente der Ruhe sind“, murmelte Reyes, um den niederschmetternden Gedanken zu
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