Nightside 10 - Für eine Handvoll Pfund: Geschichten aus der Nightside Band 10 (German Edition)
1
In den Drachenschlund
In jener Nacht war ich unterwegs, um in meinem Trenchcoat durch die Straßen zu streifen, als sich ein plötzlicher Nebel wie eine Flutwelle die Straße entlang auf mich zu wälzte. Ich hielt inne und beobachtete aufmerksam seinen Weg. In der Nightside gab es nicht oft Nebel. Wir hatten eine Menge Regen, Gewitter und den gelegentlichen Froschhagel, doch Wetter als solches kannten wir nicht wirklich. Wetter und Jahreszeiten waren Teil der natürlichen Ordnung der Welt, und natürlich kannten wir die ebenfalls nicht. Solch ein plötzlicher Nebel bedeutete immer Ärger.
Die Leute liefen bereits vor dem Nebel davon oder verschwanden in Schutz bietenden Türeingängen, während die perlgraue Wand unerbittlich weiterrollte und Clubs und Geschäfte einhüllte. Neonlichter erloschen, bis nur noch ein schwaches Leuchten von Technicolor-Farben hindurchschien wie viele halbblinde Augen.
Eine wachsende Stille stieg mit dem Nebel herauf, der alles Leben und Lachen auf den Straßen auffraß und absorbierte. Durch den dicken Dunst konnte ich düstere Formen ausmachen, die mühsam zu kämpfen schienen wie Insekten in sich verhärtendem Bernstein. Die Nebelschwaden wischten über Schaufenster, füllten die Nacht und hingen schwer in der Luft, sammelten sich in plötzlichen Wolken und waberten vorwärts. Die perlgrauen Dünste waren ganz nah und ließen schimmernde Funken und undeutliche Umrisse durchscheinen, die sogleich wieder verblassten. Ich dachte ernsthaft darüber nach wegzurennen.
Alles deutete auf einen Fluxnebel hin.
Die Dinger waren gefährlich. Ein Fluxnebel bedeutete, dass die Kanten der Welt nicht mehr niet- und nagelfest waren und die Realität aus den Fugen geriet. In einem Fluxnebel wurden alle Gewissheiten in Frage gestellt und alle existierenden Möglichkeiten gleichwertig. Wenn man in einer grauen Welt, in der jede Biegung gleich aussieht, die falsche Abzweigung nahm, betrat man vielleicht aus dem Nebel heraus einen komplett neuen Ort. Ohne Garantie, je wieder den Weg nach Hause zu finden. In einem Fluxnebel schien alles unscharf und verzerrt, denn man sah ein Dutzend verschiedener Dimensionen und Hunderte von Möglichkeiten für jeden Gegenstand, jede Person, jede Richtung. Personen und Orte konnten sich fast unmerklich verändern, während man sich ihnen näherte, vertraute Gesichter wurden zu Fremden, und es dauerte nur einen Wimpernschlag, sich in einer Welt zu verlieren, die man nicht kannte. Die einzige Verteidigung gegen einen Fluxnebel bestand darin, woanders zu sein, wenn einer entstand.
Ich hätte es besser wissen müssen. In so einer Nacht sollte man nicht auf den Straßen unterwegs sein. Die Wettervorhersage hatte besagt, es werde „wechselhaft“, mit dem Zusatz „auf eigene Gefahr“. Doch ich hatte das Bedürfnis auszugehen, in der Nightside auf und ab zu wandern, zu sehen, was es zu sehen gab und ein paar sehr private Gedanken zu denken. Manchen Gedanken konnte man nur dann anständig nachhängen, wenn man sich von seinem vertrauten Gebiet entfernte. Melancholie war in den letzten Wochen über mich gekommen, und ich war nicht sicher, warum. Die Dinge liefen zur Abwechslung wirklich gut. Ich war vermögend genug, um meine Fälle auszuwählen und nur denen nachzugehen, die mich interessierten, ich erfuhr genug Respekt, um in den vergangenen Wochen keinen Mordversuchen zum Opfer gefallen zu sein, und Suzie und ich waren einander ... näher als je zuvor.
Ich hatte alles, wovon ich je geträumt hatte. Warum also war ich so ruhelos? Warum erschien mir das alles wie die Ruhe vor dem Sturm?
Suzie verfolgte einen eigenen Fall, bei dem sie für ein Kopfgeld irgendeinen armen Bastard jagte, und das Haus schien ohne sie so ruhig und still. Ich hatte mich auf seltsame Weise aufgewühlt und unruhig gefühlt ... als hätte mich irgendwer irgendwo im Visier. Also hatte ich das Haus verlassen und einen Spaziergang gemacht, um zu grübeln und hoffentlich jeden möglichen Feind aufs freie Feld zu locken, wo ich ihn kriegen konnte – und was ich bekam war zu meinem Unglück ein Fluxnebel.
Der Dunst kam wirklich immer näher. Leute, vage und undeutlich zu erkennen, kamen aus der grauen Wand vor mir heraus, und ihre Einzelheiten wurden erst klarer, als sie den Nebel hinter sich ließen. Ein gigantischer Teddybär in einer britischen Armeeuniform aus dem Ersten Weltkrieg schaute verwirrt über sich selbst drein und hielt sein Gewehr mit seinen pelzigen Tatzen fest umklammert. Eine
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