Wallander 08 - Die Brandmauer
die schwere Kunst angeeignet, einen Tatort zu interpretieren. Bevor Wallander mit Rydberg zusammenzuarbeiten begann, war er ein äußerst durchschnittlicher Polizist gewesen. Erst viel später, als Rydberg schon lange tot war, hatte Wallander erkannt, daß er selbst nicht nur Beharrlichkeit und Energie besaß, sondern auch gewisse Fähigkeiten. Doch noch immer führte er im stillen Gespräche mit Rydberg, wenn eine komplizierte Ermittlung ihm zu schaffen machte und er nicht wußte, in welche Richtung er sich wenden sollte. Noch immer wurde ihm fast täglich bewußt, wie sehr er Rydberg vermißte.
Dann war plötzlich sein Vater gestorben. Er war in seinem Atelier in Löderup einem Schlaganfall erlegen. Es war jetzt drei Jahre |15| her. Nach wie vor erschien es Wallander unbegreiflich, daß sein Vater nicht mehr dasein sollte, von seinen Gemälden und dem ewigen Geruch nach Terpentin und Ölfarben umgeben. Das Haus in Löderup war nach dem Tod seines Vaters verkauft worden. Wallander war zuweilen vorbeigefahren und hatte gesehen, daß jetzt andere Menschen dort wohnten. Aber er hatte nie angehalten. Dann und wann besuchte er das Grab, fast jedesmal mit einem diffusen Gefühl von schlechtem Gewissen. Er stellte fest, daß die Abstände zwischen den Besuchen von Mal zu Mal größer wurden. Und er merkte, daß es ihm immer schwerer fiel, sich das Gesicht seines Vaters in Erinnerung zu rufen.
Ein Mensch, der tot war, wurde am Ende zu einem Menschen, der nicht existiert hatte.
Dann Svedberg. Sein Kollege, der im Jahr zuvor in seiner eigenen Wohnung brutal ermordet worden war. Damals hatte Wallander darüber nachgedacht, wie wenig er im Grunde von den Menschen wußte, mit denen er zusammenarbeitete. Svedbergs Tod hatte Dinge ans Licht gebracht, von denen er nicht einmal ansatzweise etwas geahnt hatte.
Und jetzt war er auf dem Weg zu seiner vierten Beerdigung, der einzigen, zu der er eigentlich nicht hätte fahren müssen.
Sie hatte am Mittwoch angerufen. Wallander hatte gerade sein Büro verlassen wollen. Es war spät am Nachmittag. Er hatte Kopfschmerzen, nachdem er über einem trostlosen Ermittlungsmaterial gebeugt gesessen hatte, in dem es um die Beschlagnahme von Schmuggelzigaretten aus einem Lastzug ging, der mit einer Fähre gekommen war. Die Spuren hatten ins nördliche Griechenland geführt und sich da verloren. Er hatte mit der griechischen und der deutschen Polizei Informationen ausgetauscht. Aber den Hintermännern waren sie trotzdem nicht nähergekommen. Jetzt wurde ihm klar, daß man den Fahrer, der wahrscheinlich nichts von dem Schmuggelgut in seiner Ladung gewußt hatte, zu ein paar Monaten Gefängnis verurteilen würde. Dramatischer würde es nicht werden. Wallander war sicher, daß täglich Schmuggelzigaretten nach Ystad kamen, und er bezweifelte, daß es ihnen jemals gelingen würde, den Verkehr zu stoppen.
Außerdem war sein Tag dadurch verdorben worden, daß er heftig |16| mit dem Staatsanwalt aneinandergeraten war, der Per Åkeson vertrat. Åkeson war vor einigen Jahren in den Sudan gegangen und schien nicht an eine Rückkehr zu denken. Bei Åkesons Aufbruch und wenn Wallander jetzt die Briefe las, die er regelmäßig bekam, verspürte er ein nagendes Gefühl von Neid. Åkeson hatte etwas gewagt, von dem Wallander nur geträumt hatte. Jetzt wurde er bald fünfzig. Er wußte, auch wenn er es sich selbst nicht richtig eingestehen wollte, daß die großen, wichtigen Entscheidungen in seinem Leben wahrscheinlich hinter ihm lagen. Etwas anderes als Polizist würde er nicht mehr werden. Er konnte bis zu seiner Pensionierung versuchen, ein besserer Ermittler zu werden. Und vielleicht etwas von seinem Können an seine jüngeren Kollegen weiterzugeben. Doch darüber hinaus gab es nichts, was er als Wendepunkt seines Lebens vor sich sehen konnte. Es gab keinen Sudan, der auf ihn wartete.
Er hatte mit der Jacke in der Hand dagestanden, als sie anrief.
Zuerst hatte er nicht gewußt, wer sie war. Dann hatte er erkannt, daß es Stefan Fredmans Mutter war. Gedanken und Erinnerungsbilder rasten ihm durch den Kopf. In wenigen Sekunden hatte er sich die Ereignisse wieder vergegenwärtigt, die jetzt drei Jahre zurücklagen.
Der Junge, der sich als Indianer maskiert und versucht hatte, Rache zu nehmen an den Männern, die seine Schwester in den Wahnsinn getrieben und seinem kleinen Bruder Todesangst eingejagt hatten. Einer der von ihm Getöteten war der eigene Vater gewesen. Wallander hatte sich an das entsetzliche
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