Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
was wäre der Zielort deiner Flucht?
Das wäre projektgebunden. Ich hätte gern ein neues Projekt – ein Projekt außerhalb des Umfelds, das ich kenne und das mich kennt. Generell ließe sich die Frage daher vielleicht mit „Außerhalb Europas“ beantworten.
Paris?
Paris ist dadurch, daß ich es so gut kenne und schätze, selbstverständlich eine Option. Im Grunde genommen ist Paris aber zu nahe an Deutschland, der Firma, Ana et cetera. Ich hätte immer Angst, daß ich, durch was für einen Zufall auch immer, jemanden treffe, der mich erkennt.
Was wäre, wenn Brandenburg nicht klappt?
Es müßten mehrere Faktoren zusammenkommen, damit ich auch wirklich an eine „Flucht“, oder wie immer man das nennen mag, denke.
Was wären diese Faktoren?
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Er sitzt im Konferenzraum der Firma und sieht, wie zwei Polizeibeamte in sein Büro treten. Der eine, etwas größere, hat das Gesicht von Wachtmeister Willems, sein Kollege das von Wachtmeister Roche, den beiden Fahndern aus der Serie Streife 6 , von der Wallner vor eineinhalb Wochen, es war Samstag abend, eine Folge gesehen hat. Obwohl die Polizeibeamten vor dem Schreibtisch im Büro stehengeblieben sind und sich auch sonst nicht bewegen, haben ihre dunkelbraunen Lederjacken geknarzt. Die Tür dämpft das Klingeln des Telefons, das aus dem Sekretariat kommt.
Der eine, etwas größere Polizeibeamte sagt: „Heute früh hat sich auf der Strecke Essen–Köln ein ICE-Unglück ereignet. Ihr Vater saß in dem ICE. Er wurde durch das Fenster geschleudert, ihm wurde die Schädeldecke zertrümmert. Anschließend überschlug er sich mehrmals auf der Wiese, auf der Löwenzahn blühte und Kühe weideten. Dabei wurde ihm das Genick gebrochen.“
Papa ist das Genick gebrochen worden.
Wallner sagt: „Es gibt auch noch diese Kinderdörfer in Nigeria. Die Mehrzahl der Kinder sind Waisen, häufig Kinder, die ihre Eltern in einem der Bürgerkriege verloren haben oder ausgesetzt wurden. Der andere Teil sind Kinder, deren Eltern über keinerlei finanzielle Mittel verfügen. In den Dörfern werden die Aufgaben von den Kindern selber übernommen. Es gibt Handwerker, es gibt Verwalter. Die meisten Lehrer der Schulen in den Kinderdörfern kommen aus westlichen Ländern. Wenn die Kinder ihren Abschluß gemacht haben, gehen sie entweder in praktische Berufe oder sie werden an Unis im In- und Ausland weitervermittelt.“
Während er sich zu den anderen Parteien im Konferenzraum wendet, Henning van Riet und Tobias Resch, streicht sich Wiget übers Kinn, eine Gewohnheit, die er, auch nachdem er sich vor zwei Jahren den Bart abrasierte, beibehalten hat.
Er sagt: „Und man darf nicht vergessen, Stefan und ich kennen den Gründer, Mark Huggan, persönlich. Er hat mit uns in Regensburg studiert. Er ist integer. Es sind keine Fälle von Betrug oder irgendwelchen Schweinereien mit den Kindern bekannt. Es ist unwahrscheinlich, daß unser Name unter ihrem Namen leidet. Es ist wahrscheinlich, daß ihr Name auf unseren Namen einen positiven Effekt hat.“
Resch sagt, daß es seitens der Aktionäre auch keine Einwände gegeben habe.
Van Riet sagt, daß das drei gegen einen sei und daß die Spendensache jetzt ohnehin nicht so wichtig sei, ihm sei mehr daran gelegen, über Marckelsheim zu sprechen.
Frau Beck neben Wallner fragt, was sie jetzt ins Protokoll schreiben solle.
Wallner sagt, daß sie schreiben solle, der Aufsichtsrat habe eine Spende in Höhe von soundso viel Euro für die Stiftung „Kinderdörfer“ beschlossen.
Van Riet sagt, die Fakten seien die: Die Firma in Marckelsheim sei halb so groß wie die Firma hier in Cham. Bis vor zehn Jahren sei Marckelsheim der einzige Hersteller landwirtschaftlicher Geräte im Elsaß gewesen. Vor zehn Jahren sei eine Firma für landwirtschaftliche Geräte in Straßburg gegründet worden. Seit zehn Jahren laufe Straßburg Markkelsheim den Rang ab. Im Elsaß werde vorrangig Getreide und Mais angepflanzt. Neuerdings Erdnüsse.
Van Riet hat eine stark norddeutsche und insbesondere hamburgische Aussprache. Vor drei Jahren haben Wallner und Wiget Anteile an van Riets Unternehmen für landwirtschaftliche Geräte in Hamburg erworben. Van Riet ist dadurch Mitglied im neu entstandenen Aufsichtsrat der fusionierten Firmen und kommt regelmäßig zu den Sitzungen nach Cham. In seinen Wortschatz haben sich seitdem bayerische Ausdrücke gemischt, die er aber norddeutsch ausspricht. Van Riet sagt „Grät“, Singular, statt „Geräte“, Plural.
Wiget hatte
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