Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
zu Weihnachten schickt, sein Vater sei tödlich verunglückt, sie solle ihn aber vorerst nicht anrufen, bitte –, er löscht, was er gerade geschrieben hat, und schreibt, sein Vater sei tödlich verunglückt, sie solle ihn aber vorerst nicht anrufen, bitte –.
Wallner sieht, wie seine Cousine in ihrem Büro im Sozialamt, das er nicht kennt und sich deshalb als das Büro Anas vorstellt, die E-Mail öffnet und die rechte Hand vor den Mund hält, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.
Nein.
Er stellt sich vor, daß sie die E-Mail öffnet, einen wichtigen Telefonanruf bekommt und „Darf ich Sie zurückrufen? Ich bin gerade in einem Meeting“ sagt. Sie klingt gefaßt.
03
Aus der Luft, vom Hubschrauber aus, sind die Waggons des ICEs auf offener Strecke zwischen grünen Feldern gut erkennbar. Zwei Waggons sind nach links zur Seite gekippt, die anderen Waggons stehen in gerader Linie. Um die umgestürzten Waggons liegen helle Kleidungs- und Gepäckstücke verstreut, bei denen es sich aber auch um Menschen handeln könnte. Der Augenzeuge Dieter Baumann, der eine hellbraune Strickjacke trägt, die spärlichen weißen Haare zurückgekämmt, sagt aus, er habe ein lautes Quietschen wie von Bremsen gehört, dann ein Krachen, er sei hinausgerannt und da habe der ICE auch schon dagelegen. Baumann deutet dabei mit dem ausgestreckten Arm auf das Feld, die weißen Waggons des ICEs in der Ferne, auf dem leicht erhöhten Damm. Eine Nahaufnahme zeigt die beiden umgestürzten, nahezu unbeschädigten Waggons, um die herum Feuerwehrleute und andere Uniformierte stehen, reden. Laut dem roten Tickerband am unteren Bildschirmrand beläuft sich die Zahl der Todesopfer auf 19, die Zahl der Verletzten auf mehr als 60. Als Unfallursache wird mangelnde Gleiswartung angegeben. Um 16:59 Uhr schaltet Wallner auf die heute -Nachrichten. Der Nachrichtensprecher trägt eine gelbe Krawatte mit roten Punkten, er sagt, es habe sich heute vormittag auf der Strecke Essen–Köln ein schweres ICE-Unglück ereignet. Man gehe von 19 Toten und mehr als 70 Verletzten aus. Die Aufnahme aus dem Hubschrauber zeigt die weißen Waggons des ICEs, die beiden Waggons, die nach links auf das Feld gekippt sind, ringsum verstreut die Kleidungs- und Gepäckstücke, bei denen es sich auch um Menschen handeln könnte.
04
Wallner hat seine Anzughose aus- und eine Jeans angezogen. Während er sein Hemd aufknöpft, hat er plötzlich eine Szene vor Augen. Da ist sein Vater. Er sitzt in einem Sechserabteil in einem ICE. Er hat das Aussehen, das er als etwa 65jähriger hatte, als Wallner ihn zum letzten Mal sah, und nicht das des 82jährigen, als der er starb. Durch die Bremsung des Zugs fällt das durchsichtige Brett des Gepäckfaches auf seinen Kopf. Er stürzt nach vorne, sein Hinterkopf ist eingedrückt. Aus einem Spalt in der Schädeldecke tritt Blut und färbt das grau-schwarze Haar dunkelrot.
05
2. April
König anrufen!
06
In Wallners Kopf befinden sich grüne, blaue und rote Flekken. Dr. Kaduk deutet mit einem Stab auf die Ergebnisse der PET-Aufnahme auf dem Bildschirm.
„So. Nicht erschrecken. Schön bunt, gell? Ich erkläre Ihnen das mal. Hier haben wir das Gehirn. Wir haben ja, wie gesagt, mal die Funktionen gemessen. So. Wir können jetzt auch näher herangehen, um ganz sicher zu sein, daß da nichts ist.“
Dr. Kaduk zoomt mit der Tastatur auf den blauen Fleck, der, wie Wallner jetzt sieht, außen heller ist als innen, azur. „Also“, sagt Dr. Kaduk, „ich habe mir das schon am Vormittag angesehen, und ich kann Sie beruhigen. Da ist nichts. Kein Tumor oder ähnliches. Bitte jetzt nicht enttäuscht sein.“
Dr. Kaduk lacht über seinen Witz und fletscht dabei die Zähne. Wallner lacht mit und hofft, daß es nicht allzu gezwungen wirkt.
„Was meinen Sie dann, woher das kommt? Haben Sie da eine Erklärung?“ sagt Wallner.
Er hätte nicht so abrupt zu lachen aufhören sollen.
„So. Ja. Was Sie mir da geschildert haben, ihre Symptome, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, das mit dem Herzen und so weiter, also für mich klingt das nach klassischer Überarbeitung, zuviel Streß, um es mit einem Wort zu sagen.“
Dr. Kaduk lacht wieder, zähnefletschend. Wallner hatte gedacht, dieses Gefühl, daß da etwas in seinem Kopf sei, etwas Fremdes, Kieselsteingroßes, würde verschwinden, sobald der Beweis erbracht wäre, daß es sich um etwas Ungefährliches handelte. Aber der Kieselstein ist noch immer da.
Möglicherweise hat Dr. Kaduk auch recht. Wallners
Weitere Kostenlose Bücher