Deathbook (German Edition)
Episode 1
Zwei stählerne Adern zerteilten die Schwärze. Ihre Oberflächen, blank poliert von Tausenden Tonnen rasender Last, glänzten matt im schwachen Licht des halben Mondes, so als flösse silbernes Blut hindurch. Sie zogen sich endlos dahin, eingebettet in eine zehn Meter breite grauschwarze Schneise. Wie scharfgeschnittene Klüfte ragte der Wald an ihren Rändern auf und schirmte den leblosen Todesstreifen ab. Keine Geräusche, keine Blicke drangen hinein. Stille.
Aber nur scheinbar.
Ein feines Vibrieren strömte bereits durch die glänzenden metallenen Adern, genau wie Blut durch menschliche Venen. Es sickerte in den Boden, in die kapillarfeinen Wurzeln der nahestehenden Bäume, drang durch das Holz in die Kronen empor und ließ Blätter und Nadeln schwingen. Kaum wahrnehmbar.
Aber das Mädchen spürte es.
Ihr Blick zuckte von rechts nach links, immer wieder und immer schneller. Die großen, von langen Wimpern eingefassten Augen suchten etwas, fanden es aber nicht. Tränen tropften aus den Augenwinkeln die Wangen hinab. Sie ließen die Wimperntusche zerfließen, und es sah aus, als verließe dunkles, zähes Blut den Kopf des Mädchens durch die Augenhöhlen.
Mit dem Nacken lag sie auf dem einen Schienenstrang, mit den Oberschenkeln auf dem anderen, dazwischen ihr schmaler Körper auf dem Schotterbett, die Arme locker an den Seiten, die Finger auf den schmutzigen Steinen. Sie war gekleidet in eng anliegende Jeans, wadenhohe braune Stiefel und eine kurze schwarze Jacke. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter kurzen, raschen Atemzügen.
Aus Westen näherten sich drei Augen. Kreisrunde, glimmende Kugeln, die in der Nacht schwebten. Diese Augen und das feine Vibrieren in den Stahlsträngen gehörten untrennbar zusammen. Das Mädchen wusste das, und ihre Atmung wurde schneller und schneller. Sie hechelte jetzt wie ein Hund.
Die Atmosphäre im Todesstreifen lud sich mit der Energie des herannahenden Kolosses auf. Vielleicht verlieh diese Energie dem Mädchen zusätzliche Kraft, vielleicht wurde ihre Angst übermächtig, denn sie wandte unter äußerster Anstrengung den Kopf nach rechts, den drei Augen entgegen. Sie waren größer geworden in den vergangenen Sekunden und wuchsen weiter heran. Aus dem Glimmen wurde kräftiges gelbes Licht, das auf die Stahlstränge fiel und dem Koloss vorauseilte. Die Erde begann zu beben.
Das Mädchen schwitzte stark. Keuchend kämpfte sie gegen den Fluchtreflex an. Doch sie blieb liegen und ließ das metallene Ungeheuer kommen. Blickte ihm in die Augen, die größer und heller wurden und den Todesstreifen mit Licht fluteten. Licht, das den jugendlichen Körper des Mädchens aus der Dunkelheit riss.
Ohrenbetäubender Lärm erfüllte die Luft, die Schienenstränge schüttelten den Körper durch. Ganz sacht bewegten sich die Finger des Mädchens, ertasteten den scharfkantigen Schotter, schienen sich daran festhalten zu wollen. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer grauenvollen Maske. In ihren letzten Sekunden ertrug sie den Anblick nicht mehr und kniff die Augen zusammen. Den Mund aber riss sie weit auf, und vielleicht verließ jetzt doch ein Schrei ihre Lippen. Hören konnte ihn niemand.
Als der Lokführer das Hindernis auf den Schienen entdeckte, leitete er sofort die Bremsung ein, doch es war zu spät. Der Körper verschwand unter seiner Lok, als wäre er gar nicht da gewesen. Kein Rumpeln oder Zittern, nur das jämmerliche Quietschen von Metall auf Metall wie das Geschrei einer zänkischen alten Hexe. Ein wenig Blut spritzte auf die ohnehin schon schmutzige Frontscheibe. Der Lokführer klammerte sich mit beiden Händen an die Haltegriffe, um nicht nach vorn gegen die Instrumententafel zu kippen, und starrte auf die rotbraunen Flecken. Dann wandte er das Gesicht ab und kämpfte gegen den Würgereflex an.
Durch die Seitenscheibe meinte er, im dunklen Unterholz des nahen Waldes schwarze Schatten umherhuschen zu sehen. Wild vielleicht, das vor dem Lärm flüchtete.
Aber er sah auch ein bläuliches Licht, wie von Glühwürmchen. In anderthalb Meter Höhe zuckte es unruhig umher.
Als der lange Güterzug endlich stand, hatte er das Gesehene bereits wieder vergessen.
D ieses Bild von Kathi mochte ich besonders. Darauf sitzt sie in ihrem Zimmer vor der vertäfelten Wand und hält ihre schwarzweiße Katze «Lady». Dem Betrachter dieses Fotos drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, von zwei Katzen angeschaut zu werden. Die Aufnahme wird von den Augen der beiden
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