Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
01
26. März
16:15 Uhr. Friseur.
02
Stefan Wallner vergleicht in seinem Büro die Kosten für den Transport von drei Traktoren nach Klatovy – Bahn oder LKW. Frau Beck hat ihn vom Vorzimmer aus angerufen, er kann ihre am Tisch sitzende Gestalt durch die Milchglasscheibe sehen. Sie sagt, daß ihn zwei Polizeibeamte sprechen wollen. Wallner läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Die Polizeibeamten werden wegen dieser Lieferung von CLAAS -Reifen aus Danzig vor zwei Jahren kommen, die nicht versteuert wurde. Sobald die Polizeibeamten gegangen sind, wird Wallner Ulrich Wiget anrufen, um sich mit ihm zu beraten, ob man die Akten in Wigets Büro, alle Beweise beseitigen, am besten vernichten oder ob man einen Anwalt kontaktieren soll, den Fall schildern, nach den möglichen rechtlichen Konsequenzen fragen, abwägen. Der Anwalt hätte Schweigepflicht.
Die beiden Polizeibeamten treten ein. Es habe sich ein ICE-Unglück ereignet, man gehe davon aus, daß sich Wallners Vater unter den Toten befinde, man habe eine Leiche mit einem Paß auf den Namen Günter Wallner gefunden, es täte ihnen leid. Es entsteht eine Pause.
Wallner geht durch den Flur und steigt die Treppe zum ersten Stock herunter, wo Wiget sein Büro hat. Draußen ist ein strahlender Tag, die Sonne scheint hell durch die Fenster. Wallner sagt, daß soeben die Polizei dagewesen sei, sein Vater sei bei einem ICE-Unglück ums Leben gekommen, sein Vater sei tot.
Wiget steht auf und fragt: „Dein Vater?“
Wallner kann Wigets Gesichtsausdruck hinter dessen schwarzen Bart nicht genau erkennen.
Es entsteht eine Pause.
Wiget fragt: „Bist du OK?“
Wiget soll Wallner in den Arm nehmen.
Wallner hat „Ich weiß nicht“ gesagt, seine Stimme zittert dabei, er werde für heute Schluß machen, Uli solle ihn bei allen weiteren Terminen heute vertreten.
Wiget umarmt Wallner. Wallner drückt sein Gesicht an Wigets rechte Schulter, Wiget hält ihn, Wallner weint.
Wallner geht zum Büro seiner Frau Ana und grüßt auf dem Flur Frau Bräuer aus der Buchhaltung. Er sagt Ana, daß sein Vater tödlich verunglückt sei, ein Zug sei entgleist, ein ICE, es sei aber schon in Ordnung, er wolle jetzt nur nach Hause, sie könne ruhig hierbleiben, er komme schon klar. Ana ist aufgestanden und hat die rechte Hand an ihren Mund gedrückt. Ana wird Wallner umarmen wollen. Als Ana auf Wallner zugeht, um ihn zu umarmen, macht er einen Schritt zurück und sagt, daß es schon in Ordnung sei, er brauche nur Ruhe, es sei schon in Ordnung.
Zu Hause in der Küche nimmt Wallner zwei Toastscheiben aus dem Kühlschrank und belegt sie mit Emmentaler und Putenschinken. Von der Treppe sind Schritte zu hören, die angelehnte Küchentür öffnet sich. Costin trägt das goldfarbene Trikot der rumänischen Fußballnationalmannschaft, er muß Wallner gehört haben.
Costin fragt: „Tata? Was machst du denn hier?“
Wallner fragt: „Und du? Was machst du hier?“
Costin sagt: „Ich muß nach Regensburg“, er deutet auf die weiße Sporttasche, die um seine Schulter hängt.
„Diese Tanzgeschichte?“ fragt Wallner.
„Diese Tanzgeschichte“, sagt Costin und nickt.
Er beugt sich zum Teller vor, greift nach der zweiten Toastscheibe und steckt sie als Ganzes in den Mund. Als sich Costin umdreht und mit gespielt hastigen Bewegungen in den Flur verschwindet, hat ihm Wallner, der ihm gar nicht erst folgt, auf den Rücken gepatscht. Auf der Rückseite des Trikots steht über der fettgedruckten schwarzen Acht ein Name, den Wallner noch nie gehört hat, Pesencu .
Das Aufschieben von Angelegenheiten kann Folgen haben. Alles rächt sich. Wallner weiß, daß Ana in der obersten Schublade des Schreibtischs ihr hellgrünes Filzadreßbuch aufbewahrt, in das sie, seit er sie kennt, Adressen einträgt, noch heute, obwohl sie einen mit Handy und Rechenfunktion ausgestatteten Organizer besitzt. Das hellgrüne Filzadreßbuch ist für Verwandte, Freunde und Bekannte, der Organizer für Kunden, Arbeitskollegen und Geschäftsanschriften. Wallner schlägt die Seite der Familiennamen auf, die mit W beginnen, und sucht die Telefonnummer seiner Cousine heraus. Er kann ihre Stimme hören, die sich mit „Wallner-Lloyd“ meldet, und seine eigene, die „Stefan“ sagt. Wallner unterläßt es, seine Cousine anzurufen. In seinem Arbeitszimmer gibt er im Suchfeld auf der Seite seines E-Mail-Kontos „Wallner-Lloyd“ ein und schreibt als Antwort auf die Rundmail, die seine Cousine unter anderem auch an ihn immer
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