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Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck

Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck

Titel: Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Und in siebzig Jahren werden die Urenkel meines Bruders hier wohnen.«
    »Vielleicht«, sagte ich, »aber sie werden nichts wissen von dir und
    mir.«
    »Nein, kein Mensch wird wissen, daß du bei mir warst.«
    Ich faßte ihre kleine Hand, diese sehr sanfte Hand, und hielt sie nahe vor mein Gesicht.
    Dort, wo das Fenster war, stand jetzt im Ausschnitt eine dunkelgraue Dunkelheit, heller als die Finsternis der Nacht. Ich spürte plötzlich, daß sie sich an mir vorbeibewegte, ohne mich zu berühren, und ich hörte die leichten Tritte ihrer nackten Füße auf dem Boden; dann hörte ich, daß sie sich anzog. Ihre Bewegungen und die Geräusche waren so leicht; nur als sie nach hinten auf ihren Rücken griff, um die Knöpfe der Bluse zu schließen, hörte ich ein heftigeres Atmen.
    »Jetzt mußt du dich anziehen«, sagte sie.
    »Laß mich liegen«, sagte ich.
    »Ich möchte kein Licht machen.«
    »Mach kein Licht und laß mich liegen.«
    »Du mußt doch etwas essen, ehe du gehst.«
    »Ich gehe ja nicht.«
    Ich spürte, daß sie innehielt im Zuziehen der Schuhe und erstaunt im Dunkeln dorthin blickte, wo ich lag.
    »So«, sagte sie nur leise, und ich konnte nicht feststellen, ob sie erstaunt oder erschrocken war.
    Wenn ich den Kopf zur Seite wandte, konnte ich jetzt in dieser dunkelgrauen Dämmerung ihre Umrisse sehen. Sie bewegte sich sehr sanft im Raum, suchte Holz und Papier zusammen und nahm die Streichholzschachtel aus meiner Hosentasche.

Diese Geräusche erreichten mich fast wie leise, ängstliche Rufe von jemand, der am Ufer steht und einem anderen nachruft, der von der Strömung in ein großes Gewässer hineingetrieben wird; und ich wußte jetzt, wenn ich nicht aufstand, nicht in den folgenden Minuten mich entschloß, dieses leise schwankende Schiff der Verlorenheit zu verlassen, würde ich in diesem Bett sterben wie ein Gelähmter oder über diesem Kissen erschossen werden von den unermüdlichen Schergen, denen nichts verborgen blieb.
    Während ich ihr kleines Summen vernahm, wie sie dort am Herd stand und dem Feuer zublickte, dessen warmer Schein mit stillem Flügelschlag wuchs, schien ich durch mehr als eine Welt von ihr getrennt. Sie stand da irgendwo am Rande meines Lebens, summte leise und freute sich des wachsenden Feuers; ich verstand das alles, sah es, roch den brandigen Qualm versengten Papiers, und doch hätte sie nirgendwo ferner stehen können von mir.
    »Steh doch jetzt auf«, sagte das Mädchen vom Ofen her, »du mußt ja gehen.« Ich hörte, daß sie eine Kasserolle aufs Feuer setzte und zu rühren begann, es war ein sehr schönes und stilles Geräusch, dieses sanfte Kratzen des hölzernen Löffels, und der Geruch von geröstetem Mehl erfüllte die Stube.
    Ich sah jetzt alles. Die Stube war sehr klein. Ich lag in einem flachen Holzbett, daneben stand ein Schrank, der den Raum bis zur Tür ausfüllte, ein brauner Schrank ohne jede Verzierung. Hinter mir mußte irgendwo ein Tisch sein, Stühle und das Öfchen am Fenster. Es war sehr still, und der Dämmer noch so dicht, daß er wie Schatten in der Stube lag.
    »Ich bitte dich«, sagte sie leise, »ich muß ja gehen.«
    »Du mußt gehen?«
    »Ja, ich muß zur Arbeit, und vorher mußt du weg, mit mir.«
    »Arbeiten«, fragte ich, »warum?«
    »Oh, was du fragst!«
    »Wo denn?«
    »An der Bahn.«
    »An der Bahn?« fragte ich. »Was macht ihr denn da?«
    »Steine aufschütten, Schotter, damit nichts passiert.«
    »Es wird nichts passieren«, sagte ich, »wo bist du denn? Nach
    Großwardein zu?«
    »Nein, nach Szegedin zu.«
    »Das ist gut.«
    »Warum?«
    »Weil ich dann nicht an dir vorbeifahren werde.« Sie lachte leise. »Du willst also doch aufstehen.«
    »Ja«, sagte ich. Ich schloß noch einmal die Augen und ließ mich
    zurückfallen in dieses schaukelnde Nichts, dessen Atem ohne Geruch war und ohne Spur, dessen Plätschern mich nur wie ein leises, kaum spürbares Wehen berührte; dann öffnete ich seufzend die Augen und griff nach meiner Hose, die nun säuberlich neben dem Bett auf einem Stuhl lag.
    »Ja«, sagte ich noch einmal und stand auf.
    Sie stand mit dem Rücken zu mir, während ich schnell die gewohnten Griffe tat, die Hose hochzog, Schuhe zuband und die graue Jacke überstreifte.
    Eine Zeitlang stand ich noch still, die Zigarette kalt im Mund, und blickte auf ihre Gestalt, die klein und schmal nun deutlich sichtbar dort im Fensterausschnitt stand. Ihr Haar war schön und sanft wie eine ruhige Flamme.
    Sie wandte sich um und lächelte.

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