Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
Kapitel 1
Montag, 21 . Januar
KOMMISSARIN Viviane Lancier 3. PARISER KRIMINALABTEILUNG
Wenn die Tür zu ihrem Büro geschlossen war, war dieses kleine Schild im ganzen Großraumbüro von Weitem zu sehen. Es sollte ihr Territorium abstecken und die Hierarchie untermauern; aber für Vivianes Männer bedeutete es genau das Gegenteil: War die Tür zu, wussten sie, dass es kein Büro mehr war, sondern ihr Boudoir. Sie war dann etwas weniger Chef, etwas mehr Frau.
Das kam im Laufe eines Tages immer nur kurz vor. Um die Essenszeit herum zum Beispiel, die selten länger als zwanzig Minuten dauerte. Diesen Montag hatten fünfzehn Minuten gereicht und waren sogar mehr als genug gewesen angesichts des Speiseplans.
Viviane Lancier, Kommissarin der 3. Pariser Kriminalabteilung, legte die Plastikverpackung ihres Hühnchens auf Gurke in Joghurtsauce weit unten in den Mülleimer und versteckte sie unter einer Zeitung: Das Mittagessen einer Frau ging ihre Männer nichts an und ihre ganz persönlichen Ziele noch weniger. Sie räumte die Zeitschrift Beauté Express, » Abnehmen nach den Feiertagen: Zehn Diäten, die funktionieren«, in die Schublade. Dieses kalorienarme Essen war nichts für sie, sie war noch hungrig; zum Glück gab es den jungen Monot, den sie zum Anbeißen fand. Sie nahm das Telefon zur Hand.
» Monot, ich habe die Aussage gelesen, die Sie Freitagmorgen aufgenommen haben, die Sache mit dem Obdachlosen am Quai Conti. Kommen Sie mal zu mir.«
Sie bestand auf dem Sie, wenn sie mit ihren Männern sprach. Nur in Fernsehserien duzte man sich. Um einen Assistenten herunterzumachen, gab es nichts Besseres als ein gutes Sie mit einem eisigen Lächeln. Sie machte ihre Assistenten, ihre Untergebenen, häufig herunter. Alles Männer, zum Glück: Sie mochte es, » meine Männer« zu sagen, » meine Männer und Frauen« zu sagen, konnte sie sich nicht vorstellen.
Frauen? Im Namen der sehr heiligen Frauenquote hatte man versucht, einige Frauen in ihre Dienste zu bestellen. Nette, Lustlose, Fleißige– keine hatte es lange ausgehalten. In ihrem Team war Viviane die Frauenquote. Viviane und ihre Männer. Die Nette, die Lustlose, die Fleißige, das war sie. Sie, die Kommissarin, la Commissaire.
Sie drehte den Kopf, um ihrem Spiegelbild im Fenster nicht begegnen zu müssen. Wozu sich quälen, wo doch alles rundum erneuert werden müsste? Die kurzen braunen Haare hatten vor wenigen Jahren noch ihren Charme gehabt, als Viviane acht Kilo weniger wog; aber an einer Frau von siebenunddreißig Jahren wirkten sie einfach lächerlich und unterstrichen nur ihr feistes Gesicht, in dem sich ihre grauen Augen verloren. Das Ganze steckte auf einem Meter einundsechzig, womit sie sich nicht abfinden konnte. Ein paar halbhohe Absätze hätten darüber hinwegtäuschen können, aber wenn sie lange damit lief, taten ihr die Füße weh. Ob sie saß oder lag– ihr Körper tat ihr weh, ihre Diäten taten ihr weh, ihr Leben tat ihr weh, ganz zu schweigen von ihrem Singledasein. Nur die Arbeit tat ihr nicht weh. Alles hing miteinander zusammen, da war sie sich sicher: Würde die Arbeit ihr mehr Zeit lassen, könnte sie abnehmen und etwas aus sich machen, so wie früher. Sie hätte den Männern gefallen können, sogar den Schönen. Dem jungen Monot zum Beispiel.
Er war eingetreten. Einfach unwiderstehlich, der Lieutenant Augustin Monot, den würde sie sich nicht entgehen lassen.
Sie las laut und mit gelangweilter Stimme die Aussage vor: » Mein Name ist Tournu, Gérald, geboren am 28. Februar 1980 in Bagneux, ich bin verantwortlich für die Lieferungen bei Hélio 92, Drucker in Malakoff … Géraaald? Heißt Ihr Zeuge nicht eher Gérard? Macht Sie das nicht stutzig, ein Lieferant, der in Bagneux geboren wurde und Gérald heißt?«
Sie schaute zu Monot auf, in der Erwartung, ihn betreten dastehen und etwas stammeln zu sehen. Stattdessen setzte er sein Pfadfinder-Stammesführer-Lächeln-im-Regen auf, schwang seine schlanke Gestalt herum und strich die blonde Strähne, die seine großen grünen Augen bedeckte, wieder an ihren Platz.
» Nein, Commissaire, er heißt tatsächlich Gérald, ich habe nachgefragt. Im Übrigen habe ich im Internet eine amüsante Sache entdeckt: Gérard und Gérald werden nicht vom selben Stamm abgeleitet. Gérald kommt aus dem Deutschen, von ger ›Speer‹ und wald ›Chef‹, also der mit dem Speer regiert. Gérard hingegen kam im XI . Jahrhundert mit den Normannen aus England. In Verbindung gebracht hat man die beiden
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