Warte, bis du schlaefst
Schreibtisch, und es ertönte die übliche Ansage vom Anrufbeantworter. »Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und eine kurze Nachricht. Ich rufe Sie zurück.«
»Hier spricht Carolyn MacKenzie«, sagte ich. »Wir haben ein paarmal miteinander gesprochen. Ich war Assistentin von Richter Huot. Mein Bruder ist seit zehn Jahren verschwunden. Er hat gestern einen Zettel mit einer Nachricht für mich in einer Kirche an der Amsterdam Avenue hinterlassen. Ich will versuchen, ihn ausfindig zu machen, bevor er wieder ganz verschwindet, und brauche dazu Ihre Hilfe.« Danach hinterließ ich noch meine Handynummer.
Ich stand auf den Eingangsstufen. Ein Mann kam von hinten an mir vorbei, breitschultrig, Mitte fünfzig, mit kurz
geschnittenen grauen Haaren und energisch ausschreitendem Gang. Er musste meine Nachricht mitbekommen haben, denn zu meiner Verwunderung blieb er stehen und drehte sich um. Wir musterten uns einen Augenblick gegenseitig, dann sagte er abrupt: »Ich bin Detective Barrott. Kommen Sie mit mir nach oben.«
Fünf Minuten später saß ich in einem schäbigen kleinen Büro, das einen Schreibtisch, einige Stühle und zahlreiche Aktenstapel enthielt. »Hier können wir uns ungestört unterhalten«, sagte er. »Im großen Raum ist es zu laut.«
Er sah mich die ganze Zeit unverwandt an, während ich ihm über Mack berichtete, unterbrach mich nur, um mir ein paar Fragen zu stellen. »Er ruft immer nur an Muttertag an?«
»Ja, das ist richtig.«
»Hat er nie um Geld gebeten?«
»Nein, nie.« Ich hatte den Zettel in eine Plastiktüte gelegt. »Ich weiß nicht, vielleicht sind Fingerabdrücke von ihm darauf«, erklärte ich. »Es sei denn, er hat jemand anderen beauftragt, den Zettel in das Körbchen zu legen. Dass er das Risiko eingegangen wäre, Onkel Dev könnte ihn vom Altar aus erkennen, erscheint einem doch ziemlich unwahrscheinlich.«
»Kommt drauf an. Vielleicht hat er sich die Haare gefärbt, vielleicht wiegt er zehn Kilo mehr, oder er trägt eine Sonnenbrille. Es ist nicht so schwierig, sich in einer Menschenmenge zu verstecken, besonders wenn die Leute Regenkleidung tragen.«
Er musterte den Zettel. Die Schrift war deutlich durch die Plastikfolie zu sehen. »Haben wir Fingerabdrücke Ihres Bruders in unseren Akten?«
»Ich bin mir nicht sicher. Als wir ihn damals als vermisst
gemeldet haben, hatte unsere Haushälterin sein Zimmer zu Hause abgestaubt und gestaubsaugt. Er hat mit zwei Freunden in einer Studentenwohnung gewohnt, und wie bei solchen Verhältnissen üblich, gingen täglich mindestens ein Dutzend andere Leute in der Wohnung ein und aus. Sein Auto wurde gewaschen und gereinigt, nachdem er es zuletzt benutzt hat.«
Barrott gab mir den Zettel zurück. »Wir könnten diesen Zettel auf Fingerabdrücke untersuchen lassen, aber ich kann Ihnen gleich sagen, dass nichts dabei herauskommen wird. Sie und Ihre Mutter haben ihn in der Hand gehabt. Außerdem Ihr Onkel, der Pfarrer. Dann noch der Gottesdiensthelfer, der ihn zu Ihrem Onkel gebracht hat. Und ich vermute, dass mindestens noch ein weiterer Gottesdiensthelfer beim Zählen der Kollekte geholfen hat.«
Weil ich das Gefühl hatte, ihm noch mehr bieten zu müssen, sagte ich: »Ich bin Macks einzige Schwester. Meine Eltern und ich haben uns bei einem Labor für DNS-Verwandtschaftstests registrieren lassen. Doch da wir bis jetzt nichts von ihnen gehört haben, nehme ich an, dass sie niemanden gefunden haben, bei dem wenigstens eine teilweise Übereinstimmung bestand.«
»Ms. MacKenzie, so, wie Sie mir das geschildert haben, hatte Ihr Bruder nicht den geringsten Grund, aus eigenem Entschluss und freiwillig zu verschwinden. Wenn es aber doch so gewesen ist, muss es einen Grund gegeben haben, muss es ihn immer noch geben. Vielleicht haben Sie schon mal einige dieser Sendungen über Verbrechen im Fernsehen gesehen, daher haben Sie vielleicht gehört, dass der Grund, weshalb Leute einfach verschwinden, in den allermeisten Fällen eine Anhäufung von Problemen ist, die mit Liebe oder Geld zusammenhängen. Der verratene Liebhaber,
der eifersüchtige Ehemann, die lästig gewordene Ehefrau, der Drogenabhängige, der sich seinen Stoff besorgen muss. Sie müssen Ihre gesamten bisherigen Kenntnisse und Ansichten über Ihren Bruder noch einmal überprüfen. Er war einundzwanzig Jahre alt. Sie sagen, er sei bei den Mädchen beliebt gewesen. Gab es eine spezielle Freundin?«
»Keine, von denen uns seine Freunde erzählt hätten. Jedenfalls
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