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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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für zwölf Silben waren schon 17 Wiederholungen notwendig und für 16 sogar 30. Diese unverhältnismäßige Zunahme nennt man heute >Ebbinghaus-Gesetz<.
    1880 reichte Ebbinghaus seinen Versuchsbericht als Habilitationsschrift bei dem Physiker und Mathematiker Hermann von Helmholtz ein. Dessen Urteil war positiv: er lobte den Versuchsaufbau und die statistische Verarbeitung, fand die Resultate »nicht groß«, aber das weiß man nun einmal nicht im vorhinein, und riet dazu, diesen »hellen Kopf« als Privatdozenten zuzulassen.
    Die ersehnte Dozentur in der Tasche, wiederholte Ebbinghaus seine Experimente und ergänzte sie durch neue Studien. Noch immer war er sein eigenes Versuchskaninchen. Und das ging auch nicht anders. Die Konzentration, die man dafür braucht, schrieb er, die Geduld, die die Versuchsperson haben muß, um sich monatelang einer so langweiligen Aufgabe wie dem Auswendiglernen von Silbenreihen zu widmen - darum kann man anstandshalber niemand anderen bitten. Also murmelte er selbst jeden Morgen seine Silben vor sich hin, während die Schnur mit den Knöpfen durch seine Hände glitt. Das Ergebnis dieser mühsamen Kleinarbeit erschien 1885: Über das Gedächtnis.
    Im Stil ihrer Experimente ähnelten sich Galton und Ebbinghaus sehr. So erforschten beide ihr eigenes Gedächtnis. Beide arbeiteten ausgesprochen systematisch und suchten exakte Antworten in einer quantifizierbaren Form, die in Prozent auszudrücken war. Und die wichtigste Parallele: Beide waren hocherfreut, daß es gelungen war, das Gedächtnis der experimentellen Forschung zu öffnen. Galton schrieb, daß er mit seinen Experimenten in das Halbdunkel verborgener Geistesprozesse vorgedrungen war, Ebbinghaus pries sich glücklich, einen Ort gefunden zu haben, wo »die mächtigen Hebel der exacten Naturforschung, Experiment und Zählung« ihr Werk verrichten konnten.
    Es gab allerdings auch einen Unterschied. Beide Versuchsreihen drehten sich um das Gedächtnis, aber nur die Experimente Galtons um Erinnerungen.
    Aus der Vergessenskurve von Ebbinghaus konnte man nichts über seine Jugend ableiten, nichts darüber, was sich im Halbdunkel seines Geistes abspielte, nichts darüber, was sich unter dem Kellerboden befand. Dieselben Assoziationen, die Galton so gastfreundlich einlud, um sie nach vier Sekunden plötzlich anzuhalten und schriftlich in Gewahrsam zu nehmen, wurden im Versuchsprotokoll von Ebbinghaus schon an der Tür abgewimmelt. Die Silben, die er in seinem Gedächtnis zuließ, waren absichtlich bedeutungslos, die Gesetze von Lernen und erneutem Lernen, Ersparnis und Vergessen, konnten nur in einem offenen, hellen Raum ans Licht kommen, frei von jeglicher Ablenkung. Das beste Material zum Arbeiten ruft nichts auf, löst nichts aus, ist nur jene Reihe bedeutungsloser Stimuli. Was für Galton Gegenstand der Forschung war, betrachtete Ebbinghaus als störenden Faktor. Aber durch diese Beschränkung hatte die Forschungsarbeit von Ebbinghaus auch eine Qualität, die Galtons Experiment fehlte. Was Ebbinghaus aus dem Gedächtnis reproduzierte, konnte er mit dem vergleichen, was er sich selbst angeboten hatte. Er konnte seine eigenen Leistungen proportional ausdrücken. Dank der Tatsache, daß die Stimuli registriert waren, ließen sich der Einfluß der Zeit zwischen Lernen und erneutem Lernen, die Länge der Liste, der Effekt bereits gelernter Listen mengenmäßig sehr genau ausdrücken. Bei Galtons Aufbau war das ausgeschlossen. Zweifelsohne gingen seine Assoziationen zu dem zurück, was irgendwann einmal in sein Gedächtnis gelangt war. Er hätte nicht an seine Zeit in einem Chemielabor zurückdenken können, wenn er da nicht als Junge gewesen wäre.
    Aber diese Assoziationen ließen keinen zahlenmäßigen Vergleich zu. Ebbinghaus konnte immer das eine neben das andere stellen. Was er mit seinen Silben an Bedeutung und Inhalt verlor, gewann er mit Kontrolle und Präzision zurück.
    Gedächtnisexperiment im Ebbinghaus-Stil

    Francis Galton und Hermann Ebbinghaus hegten gegenseitig große Achtung für ihr Werk. Hätten sie im Jahre 1885 zwanzig oder dreißig Jahre in die Zukunft schauen und einen Panoramablick über die Landschaft der Gedächtnisforschung werfen können, wären sie bestürzt gewesen. Ihre eigenen Experimente unterschieden sich in Aufbau und Methode, aber sie hatten eine gleichwertige Stellung, eine jede mit eigenen Verdiensten und Mängeln. Schon eine Generation später war diese Gleichwertigkeit vollkommen verlorengegangen.

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