Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
hatte, während er selbst schlußendlich alle Ereignisse wieder reproduzieren konnte, wenn auch manchmal nur mühsam und unter Zuhilfenahme anderer Personen, die dabeigewesen waren.
So vereint die Erforschung des autobiographischen Gedächtnisses das Älteste mit dem Neuesten. Sie verwendet Methoden, deren Ursprung im 19. Jahrhundert liegen, aber sie verarbeitet die Ergebnisse mit fortschrittlichen statistischen Techniken. Die Forschung richtet sich auf Fragen, die schon vor der Entstehung der experimentellen Psychologie gestellt wurden und erst jetzt einen Platz auf der Tagesordnung bekommen. Daß die Ergebnisse nicht immer in Dezimalzahlen anzugeben sind, ist unvermeidlich. Wer Erinnerungen erforscht, im traditionellen, üblichen, vollen Wortsinn, hat mit dem zu tun, was Ebbinghaus gerade zugunsten der Präzision preisgegeben hatte: Bedeutung und Inhalt.
Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird
Das autobiographische Gedächtnis ist unser intimster Gefährte. Es wächst mit uns auf. Wenn wir fünf Jahre alt sind, verhält es sich anders, als wenn wir 15 oder 60 sind, auch wenn die Veränderungen so langsam vonstatten gehen, daß wir sie kaum bemerken. Was das autobiographische Gedächtnis an Fragen aufruft, liegt auf einer Zeitachse - im Leben und in diesem Buch. Zwischen den ersten Erinnerungen und der Vergeßlichkeit des Alters, zwischen der Ausformung des Gedächtnisses und der Erosion der Erinnerungen, zwischen dem Noch-nicht- und dem Nicht-mehr-Behal-ten-Können liegen Fragen, die wohl bei jedem aufkommen müssen, schlichtweg weil wir ein Gedächtnis haben. Es ist unmöglich, nicht ab und zu verwundert den Blick zur Seite zu wenden und zu schauen, wer da schon ein ganzes Leben lang neben uns herläuft. Man wird die Antworten bei der nun schnell an Umfang, Begeisterung und Reichweite zunehmenden Erforschung des autobiographischen Gedächtnisses suchen.
Aber nicht nur dort. Für viele Psychologen - und da nehme ich mich nicht aus - ist es zur zweiten Natur geworden, ausschließlich den Fragen, die zu den Instrumenten passen, die das Fach nun einmal zur Verfügung hat, ein »Kommen Sie ruhig herein« zuzuwinken. Dazu gehören das Experiment, die Umfrage, die Messung begleitender physiologischer oder neurologischer Prozesse, heutzutage auch bildliche Techniken wie der PET-Scan und noch eine Handvoll andere Instrumente. Diese Methoden definieren die Grenzen dessen, was sich untersuchen läßt. Mit dem, was darüber hinausgeht, haben wir lieber nichts zu tun. Es paßt nicht zu unserer Art der Forschung.
Das ist der Reflex.
Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird ist ein Versuch, sich gegen diesen Reflex zu wehren. Vieles von dem, was wir mit unserem Gedächtnis erleben, spielt sich auf einer Zeitskala ab, die keine experimentelle Forschung zuläßt. Manche Phänomene sind zu flüchtig, um registriert zu werden. Dejä-vu-Erlebnisse entstehen plötzlich, und sobald man sich bewußt wird, daß man gerade eins erlebt, ist das seltsame Gefühl, einen Teil seines Lebens zu wiederholen, bereits wieder verschwunden. Die Vorstellung dagegen, daß die Zeit immer schneller vergeht, je älter man wird, ist wieder ein viel zu langgezogenes Phänomen: auf der Skala eines Menschenlebens kann man keine Versuche machen. Wieder andere Erfahrungen zeigen sich unter Umständen, die experimentelle Forschung ausschließen. Manche Menschen, die plötzlich in akute Lebensgefahr gerieten, haben später erzählt, daß sie eine schnelle Bilderfolge vorbeiziehen sahen; wie könnte so etwas jemals unter Laborbedingungen getestet werden? Das Dilemma ist offensichtlich: entweder schiebt man solche Fragen zur Seite, oder man sucht die Antwort außerhalb des experimentellen Bereichs. Wie diese Wahl ausfiel, sieht man am Titel dieses Buchs. Auch dort, wo direkte experimentelle Forschung unmöglich ist, lassen sich oft Daten sammeln, die zumindest einen Teil der Antwort liefern. Manchmal liegen sie außerhalb der Grenzen der Psychologie: über Erinnerungen schrieben auch Neurologen und Psychiater, Schriftsteller und Dichter, Biologen und Physiologen, Historiker und Philosophen. Manchmal liegen sie außerhalb der Grenzen der heutigen Psychologie, und es sind die Kollegen vor Ebbinghaus, die in aller Arglosigkeit und mit keinen anderen Mitteln als lediglich ihren persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen nachgedacht und über Fragen geschrieben haben, die man heute in keinem einzigen Forschungsprogramm antreffen
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