Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
wird.
In einer Einleitung schauen Leser und Autor in entgegengesetzte Richtungen. Für den Leser liegt das Buch in der Zukunft, für den Verfasser in der Vergangenheit. Rückblickend kann der Autor erkennen, daß sein Buch eher Galton als Ebbinghaus geworden ist, daß >alte< Assoziationen seine Gedanken oft in die Anfangsphase der Psychologie geführt haben. So ist Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird selbst Ausdruck eines Reminiszenzeffekts geworden. Es war eine schöne Zeit.
Literatur
R. Benschop & D. Draaisma, »In pursuit of precision: the calibration of minds and machines in late nineteenth-century psychology«, Annals of Science, 57 (2000), 1, 1-25.
H.F. Crovitz & H. Schiffman, »Frequency of episodic memories as a function of their age«, Bulletin of the Psychonomic Society, 4 (1974), 517-518.
H. Ebbinghaus, Über das Gedächtnis, Leipzig 1885.
F. Galton, »Psychometric experiments«, Brain, 2 (1879), 149-162.
C. Nooteboom, Rituelen, Amsterdam 1980. Zitiert aus: Rituale, Frankfurt a. M. 1985.
R. Schulze, Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und Pädagogik, Leipzig 1913.
W. Traxel & H. Gundlach (Hrsg.), Ebbinghaus-Studien, 1, Passau 1986.
W.A. Wagenaar, »My memory: a study of autobiographical memory over six years«, Cognitive Psychology, 18 (1986), 225-252.
Blitzlichter im Dunkeln: erste Erinnerungen
Ob unser Leben mit Gedächtnisverlust endet, müssen wir abwar-ten. Sicher ist, daß es damit beginnt. Die meisten Leute datieren ihre ersten Erinnerungen irgendwo zwischen ihrem zweiten und vierten Lebensjahr, auch wenn es Ausreißer in beide Richtungen gibt. Die ersten Erinnerungen machen diesem Gedächtnisverlust auch kein Ende, sie unterstreichen ihn eher. Es sind Fetzen, losgelöste Bilder, es geht ihnen nicht nur nichts voraus, oft kommt auch lange Zeit nichts nach. »Wenn ich meine Kindheit erkunde (was nahezu der Erkundung der eigenen Ewigkeit gleichkommt)«, schrieb Nabokov in Sprich, Erinnerung, sprich, »sehe ich das Erwachen des Bewußtseins als eine Reihe vereinzelter Helligkeiten, deren Abstände sich nach und nach verringern, bis lichte Wahrnehmungsblöcke entstehen, die dem Gedächtnis schlüpfrigen Halt bieten.«
Aber woher kommt das Dunkel zwischen den Blitzlichtern? Das Gedächtnis von drei- oder vierjährigen Kindern scheint bereits ausgezeichnet zu funktionieren. Sie haben alles mögliche gelernt und behalten. Gerade in diesen Jahren explodiert ihr Wortschatz. Sie plappern ununterbrochen und erzählen, was sie erlebt haben. Aus ihren Reaktionen ist zu erkennen, daß sie über ihre Erlebnisse nachdenken und daß manche Begegnungen großen Eindruck hinterlassen haben. Für Kinder ist die Vergangenheit noch sehr lange unmarkiertes >Gestern<, aber es gibt keinen Zweifel daran, daß sie sich gut erinnern, was sie erlebt haben. Und doch sind diese Erinnerungen wenige Jahre später fast allesamt ver-
schwunden. Lediglich ein paar Blitzlichter im Dunkeln bleiben von dieser Zeit übrig.
Freud gab dieser Form des Gedächtnisverlusts den Namen infantile Amnesie«. In Freuds Lebenszeitrechnung beginnt >infantil< mit der Geburt und geht bis zum Alter von sechs oder sieben Jahren. Es handelt sich hierbei um einen Begriff, der ursprünglich eine neutrale, technische Bedeutung hatte, im täglichen Sprachgebrauch aber andere Assoziationen bekommt. In der Fachliteratur spricht man auch von >frühkindlichem Gedächtnisverlust«. Freud war der Ansicht, daß wir viel zu leicht an der infantilen Amnesie Vorbeigehen: »Wir versäumen es, ein seltsames Rätsel in ihr zu finden.« Denn wenn es wahr ist, daß die ersten Jahre für die Entwicklung eines Individuums entscheidend sind, warum haben wir sie dann später nahezu vollständig vergessen? Freud hat diese Frage als erster deutlich zur Sprache gebracht; es ist eine Frage, die schon in den Anfangsjahren der Psychologie Forschung auslöste -die erste Umfrage stammt aus dem Jahre 1895 - und die man seither nicht mehr aus den Augen verloren hat. Was die Psychologie im vergangenen Jahrhundert an Strömungen, Modellen und Schulen hervorgebracht hat, liegt fest erstarrt in der Theoriebildung über den Gedächtnisverlust während der ersten paar Jahre unseres Lebens.
Der größte Teil der Forschung galt übrigens den Blitzlichtern, nicht dem Dunkel. Die Gründe liegen auf der Hand: vielleicht kann die Art der ersten Erinnerungen etwas über die Ursachen des umgebenden Gedächtnisverlusts erhellen. Für Nabokov stand fest,
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