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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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erst zu Beginn der achtziger Jahre ein gesonderter Fachbegriff für die Speicherung von Erinnerungen an persönliche Erlebnisse eingeführt wurde, ist bei näherer Betrachtung also gar nicht so seltsam. Die Frage ist vielmehr, weshalb die Erforschung des autobiographischen Gedächtnisses erst dann in Gang kam. Warum so spät?
    In London und Berlin
    Es hätte schon zwei Jahrhunderte zuvor soweit sein können. Die ersten Experimente mit dem, was heute autobiographisches Gedächtnis heißt, fanden um 1879 statt. Sie wurden von dem englischen >gentleman scientist< Sir Francis Galton (1822-1911) durchgeführt, der sich für den Verlauf seiner eigenen Assoziationen interessierte. Während eines Spaziergangs am Pall Mall entlang konzentrierte er sich auf Gegenstände, die ihm unterwegs begeg-neten, und notierte in Gedanken immer wieder die Assoziationen, die sie bei ihm hervorriefen. Erstaunt hatte er festgestellt, wie unterschiedlich seine Assoziationen waren und daß sie ihm oft Dinge in Erinnerung brachten, an die er schon sehr lange nicht mehr gedacht hatte. Die Beobachtung seiner eigenen geistigen Prozesse erwies sich übrigens als mühselig: er mußte auf seine Gedanken und Assoziationen achten, ohne ihren freien Lauf zu behindern. Galton hatte dieses Problem gelöst, indem er seinem Geist immer wieder erst drei, vier Sekunden Zeit ließ, in aller Ru he abzuwarten, welche Assoziationen in ihm aufstiegen, und danach die volle Kraft seiner Konzentration darauf zu richten, welche Echos dann noch in seinem Geist vorhanden waren. Das Vorgehen erinnerte ein bißchen an eine plötzliche Verhaftung samt Leibesvisitation. Nach seinem Spaziergang beschloß Galton, den Versuch systematischer zu wiederholen. Er legte ein Verzeichnis aus ihm geeignet erscheinenden 75 Wörtern an wie Fahrzeug, Abtei und Mittag, schrieb diese auf ein Blatt Papier und schob es so unter ein Buch, daß er das nächste Wort nur sehen konnte, wenn er sich vorbeugte. Das Experiment verlief nach einem festen Rhythmus. Galton beugte sich vor, drückte eine Stoppuhr, sobald er das Wort sehen konnte, wartete, bis sich ein oder zwei Assoziationen gebildet hatten, las ab, wie viele Sekunden das gedauert hatte, und notierte die Assoziationen. Danach stellte er seinen Geist wieder auf scharf (»on hair trigger«) und las das nächste Wort.
    Galton empfand die Experimente als eine Prüfung. Sie waren ermüdend und langweilig, sie verlangten seinem Durchhaltevermögen viel ab. Er hatte dieselben 75 Wörter viermal abgearbeitet, mit Zwischenpausen von etwa einem Monat und unter sehr unterschiedlichen Umständen. Insgesamt hatte er 505 Assoziationen in 660 Sekunden gebildet. Das ergab ein Tempo von etwa fünfzig pro Minute, »miserabel langsam«, fand er, verglichen mit der natürlichen Schnelligkeit des Assoziierens, wenn man einfach nur so ein bißchen vor sich hinsinniert. Die Anzahl unterschiedlicher Assoziationen lag deutlich darunter, nämlich nur bei 289. Das überraschte Galton und minderte auch schnell seine anfängliche Bewunderung für die Abwechslung, die er bei seinem ersten Versuch festgestellt hatte. Bei näherer Betrachtung, erläuterte er, ähneln Assoziationen Schauspielern, denen es gelingt, einen endlosen Aufzug zu suggerieren, indem sie hinter die Bühne zurücklaufen, um dann erneut auf ihr zu erscheinen. »Auf den Wegen unseres Geists befinden sich tiefe Karrenspuren«, das stand jetzt jedenfalls fest.
    Eine weitere Erkenntnis war, daß viele der Assoziationen in seine Jugend zurückreichten, nämlich 39 Prozent. Unterschiedliche
    Wörter hatten ihm wieder in Erinnerung gebracht, wie er als Junge ein paar Tage lang im Labor eines befreundeten Chemikers herumstöbern durfte. Die Ereignisse lösten viel weniger Assoziationen jüngeren Datums aus, 15 Prozent. Außerdem waren vor allem die >alten< Assoziationen für die vielen Wiederholungen verantwortlich: ein Viertel der Assoziationen aus den Jugendjahren erschien viermal auf der Bühne und war demnach dreimal zurückgelaufen. Erziehung und Ausbildung hatten die Assoziationen des Erwachsenen fest im Griff. Obwohl Galton viel von der Welt gesehen und sich einen Namen als Entdeckungsreisender gemacht hatte, fiel ihm auf, wie ausgesprochen britisch seine Assoziationen geblieben waren, stärker noch: wenn er die Liste durchging, sah er, daß sie auch die Gesellschaftsschicht kennzeichneten, in der er geboren und aufgewachsen war.
    Am Ende seiner Experimente war Galton ein zufriedener Mann. Er hatte

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