Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
Traditionen. Der Text handelt jedoch von einer Epoche, in der zumeist schlicht und kunterbunt von Deutschen, Christen und Juden gesprochen wurde, gleichgültig, ob der religiöse, nationale oder rassische Unterschied gemeint war, ob die Staatsbürgerrechte für Juden erstritten oder später deutschen Juden abgesprochen werden sollten.
Folglich verzichte ich auf die theoretisch wünschenswerte sprachliche Präzision, die ich nur um den Preis geschichtsfremder Künstelei durchhalten könnte. Auch würde ich auf diese Weise das Selbstverständnis der vielen verletzen, die sich in zunehmender Zahl als nicht religiös gebundene Bürger verstanden. Deshalb rufe ich den am ehesten korrekten Sprachgebrauch christliche Deutsche und jüdische Deutsche nur gelegentlich in Erinnerung. Im Mittelalter war die Kollektivbezeichnung Judenschaft gebräuchlich (ähnlich der Handwerkerschaft oder Bauernschaft); das Wort Judenheit kam im frühen 19. Jahrhundert auf, um die bloß religiöse Differenz zur Christenheit hervorzuheben; im Sinne des Nationalismus entsprach der Begriff Judentum dem des Deutschtums. Er enthält die Anschauung von je eigenständigen Nationen und wurde mit dem Erstarken des Nationalismus immer beliebter. Wobei diejenigen, die in der Zeit zwischen 1800 und 1933 solche Wörter gebrauchten, das meistens in wechselndem, nur ausnahmsweise im strengen Sinn taten.
Die S. Fischer Stiftung (Berlin) förderte das vorliegende Buch großzügig, ebenso das International Institute for Holocaust Research in Yad Vashem (Jerusalem). Dort konnte ich dank des Baron Carl von Oppenheim Stipendiums zur Erforschung des Rassismus, des Antisemitismus und des Holocaust, das mir Christopher von Oppenheim gewährte, in aller Ruhe arbeiten. Die stets mitdenkenden, diskussionsfreudigen, hilfsbereiten und gastfreundlichen Kolleginnen und Kollegen in Yad Vashem erleichterten meine Arbeit in liebenswürdiger Weise.
Wie schon sechs andere meiner Bücher betreute Walter Pehle auch dieses. In stiller Hintergrundarbeit hat er im Laufe seiner 35 Jahre währenden Tätigkeit beim S. Fischer Verlag mehr als 250 Bücher zur Geschichte des Nationalsozialismus und insbesondere zur Verfolgung der Juden in den Druck gegeben. Er führte seine Autoren mit Geduld, Bestimmtheit und Nachsicht. Er warb für ihre Werke, wo er nur konnte. Walter Pehle produzierte ununterbrochen Bücher über entsetzliche Verbrechen und wahrte seinen rheinischen Witz. Das Manuskript zu diesem Buch war das letzte, das er bearbeitete, bevor er – es fiel ihm nicht leicht – 70-jährig seinen Schreibtisch im Verlag räumte. Wie immer achtete er auf jedes Komma. Wie es seine Art war, fragte er mich beim Durcharbeiten des Manuskripts hin und wieder spitz: »Was meint der Herr Autor mit diesem Satz?« und bemerkte nach einer kurzen Pause: »Das streichen wir wohl!?« Dafür und für die zwei Jahrzehnte lange Zusammenarbeit herzlichen Dank.
Berlin, März 2011
Naumanns nationaler Sozialismus
Für die vielen Abwege der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert fällt eine häufig ungenügend bedachte, im Vorangegangenen bereits mehrfach erwähnte Ursache ins Gewicht: die mangelnde Lebenskraft des politischen Liberalismus. Dieser wurde im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zwischen Konservativen, Christsozialen und Sozialisten derart zerrieben, dass selbst das schöne deutsche Wort für Liberalismus – Freisinn – aus dem nationalen Sprachgebrauch getilgt wurde. Der mit nationalen und sozialen Akzenten propagierte Kollektivismus obsiegte über die Idee der persönlichen Freiheit. Schließlich passten sich viele der unter dem liberalen Fähnlein versammelten Politiker dem Zeitgeist an, entstellten den Freisinn zur Unkenntlichkeit und vollzogen die Wende zur nationalistischen Macht- und Volkswohlpolitik.
Für diesen unheilvollen Prozess steht Friedrich Naumann. Er wurde 1860 als Sohn eines Pfarrers geboren, studierte Theologie, wurde Pfarrer und wechselte 1894 in die Politik. Zunächst war er sozialpolitisch in der Christlich-Sozialen Partei Stoeckers tätig, wandte sich bald von dieser ab, weil ihm der ausgeprägte Antisemitismus verfehlt erschien, und gründete 1897 den National-Sozialen Verein. 1897 verfasste Naumann dessen politisches Manifest »National-Sozialer Katechismus – Erklärung der Grundlinien des National-Sozialen Vereins«. Der Verein fusionierte später mit den Linksliberalen, seit 1912 nannte er sich Fortschrittliche Volkspartei. Von 1906 an war Naumann mit einer
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