Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
Weimarer Jahre in den Blick.
Für sich genommen erklären judenfeindliche Äußerungen die Vorgeschichte des Holocaust nicht. Wer den Antisemitismus in der deutschen Mehrheitsbevölkerung verstehen will, muss auch über die Gewandtheit und den Bildungswillen, die Geistesgegenwart und den schnellen sozialen Aufstieg so auffällig vieler Juden sprechen. Erst dann wird der Kontrast zur insgesamt trägen deutschen Mehrheitsbevölkerung, werden die Ansatzpunkte des Antisemitismus sichtbar. Erst dann wird verständlich, warum Antisemiten von Missgunst und Neid bestimmte Menschen waren. Die Judengegner verlangten immerzu nach »mehr Gleichheit« für sich, obwohl die Juden bis 1918 faktisch keine volle Gleichberechtigung genossen.
Ich begrenze meine Darstellung auf die Zeit, in der sich das moderne Deutschland formierte, beginne also mit den Jahren um 1800 und betrachte die Verhältnisse zwischen deutschen Juden und deutschen Christen für die dann folgenden 130 Jahre. Die Chronik antisemitischer Vereinigungen und die Mechanik der Judengesetzgebung in den einzelnen deutschen Ländern streife ich nur gelegentlich. Es kommt mir nicht darauf an, das Prädikat »rassenantisemitisch« möglichst oft zu verteilen, vielmehr gehe ich der Frage nach, wie und warum eine besonders aggressive Form des Antisemitismus in Deutschland entwickelt wurde und schließlich in allen Schichten des Volkes so viele Anhänger fand. Wie, wann und warum wurden Deutsche zu tatbereiten Antisemiten? Welche Motive, welche psychosozialen Dispositionen, welche inneren und äußeren Faktoren begünstigten diese Entwicklung? Wer einfach Schuld verteilt, um sich selbst auf der vermeintlich besseren Seite der deutschen Geschichte sicher zu fühlen, wird die Frage nicht beantworten können, warum sich die Deutschen mehrheitlich auf das Staatsziel verständigten »Fort mit den Juden!«, warum sie der »kalten Grausamkeit der rationalen Pedanterie« zum Durchbruch verhalfen, dem »biologischen Materialismus, der keine moralischen Kategorien kannte«, wie es Theodor Heuss 1949 ausdrückte. [17]
Die Deutschen folgten dieser Bahn, die im Abgrund der Unmenschlichkeit endete, zu keinem Zeitpunkt zwingend – aber am Ende waren sie diesen Weg gegangen. Ziel meiner Arbeit ist keine Forschungskontroverse über Einzelfragen. Ich versuche, den geschichtlichen Prozess, der zum deutschen Schreckensregiment der Jahre 1933 bis 1945 und zum Mord an den europäischen Juden führte, aus seiner inneren Logik zu begreifen, um einige Antworten auf die beiden Fragen zu geben, die so viel Ratlosigkeit erzeugen: Warum die Deutschen? Warum die Juden?
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Die Rechtschreibung folgt auch in den Zitaten den heute gültigen Regeln. Kursiv gedruckte Wörter in den Zitaten entsprechen stets einer Hervorhebung im Original. Weil die verwendete Literatur einen Zeitraum von rund 200 Jahren umfasst, gebe ich in den Fußnoten zum Kurztitel das ursprüngliche Erscheinungsjahr und gegebenenfalls das Erscheinungsjahr der von mir benutzten späteren Ausgabe an, um die zeitliche Einordnung der Texte zu erleichtern. Ist die zitierte Druckschrift wenig umfangreich oder insgesamt für den im Text behandelten Zusammenhang von Interesse, gebe ich keine Seitenzahl an. Einige Absätze entnahm ich einer kleinen, 2007 von mir verfassten Vorstudie, die 2008 als Teil einer namentlich nicht gekennzeichneten Einleitung erschien (Band 1 der von mir mitbegründeten und bis Band 2 mitherausgegebenen Quellenedition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945«).
Seinerzeit gebräuchliche Begriffe wie Judenfrage, Bastard, Führer, Ausmerze, Arisierung, Blutschutz, Judenstämmling, minderwertige oder hochstehende Rasse usw. setze ich im Vertrauen auf meine Leserinnen und Leser nicht in Anführungszeichen. Die Schriften jüdischer und nichtjüdischer Autoren ziehe ich gleichermaßen heran. Sie eröffnen unterschiedliche, der Fragestellung nützliche Blickrichtungen. Welcher Religion die Einzelnen angehörten, vermerke ich nicht immer. Meistens gibt der Inhalt, manchmal geben die Namen Hinweise; aber Vorsicht: weder Karl Kautsky noch Matthias Erzberger oder Wilhelm Liebknecht waren Juden.
Die bis 1933 in Deutschland ansässigen Juden waren zu mehr als 80 Prozent deutsche Staatsbürger, also Deutsche. Sie verstanden sich weithin so, nicht selten waren sie stolz darauf. Ich begrenze den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden auf religiöse
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