Warum unsere Kinder Tyrannen werden
wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass keines dieser Beispiele irgendeine Gruppe diskreditieren soll. Weder Kindern, noch Erziehern oder Eltern soll Schuld zugewiesen werden. Ich führe hier keine Schulddiskussion, die die Gesellschaft letztlich weiter spalten und den Blick auf die eigentliche Problematik verstellen würde. Worum es geht, ist, zu verstehen, dass sich die unterschiedlichsten Symptome scheinbar erziehungsresistenter Kinder und Jugendlicher auf eine gemeinsame Sache zurückführen lassen, nämlich fehlende psychische Reife.
Erst, wenn auf der Basis einer solchen Erkenntnis Erwachsene lernen, ihr eigenes Verhalten kritisch zu reflektieren, wird es möglich sein, Kindern wieder den Platz in der Gesellschaft zukommen zu lassen, auf den sie ein Recht haben. Das bedeutet: Kinder müssen wieder als Kinder gesehen werden. Heute sind wir dazu übergegangen, sie uns als kleine
Erwachsene ebenbürtig zu machen und damit restlos zu überfordern.
Ein erstes Fallbeispiel: Das Beispiel Niklas oder: Ein ganz normaler Tag in einer Grundschule
Nach dem morgendlichen Gong um 8.15 Uhr stellen sich alle Kinder einer Klasse geordnet auf. Auch die Klasse 1c hat ihren festen Platz, die Kinder stehen zu zweit und warten auf ihre Lehrerin. Nur zwei Kinder laufen um die Gruppe herum. Nachdem die Lehrerin kommt und sie bittet, sich mit aufzustellen, gehen sie gemächlich an das Ende der kleinen Schlange.
Niklas läuft noch durch die Sträucher und versteckt sich. Als er sieht, dass seine Klasse zur Eingangstür geht, schreit er laut: »Hier bin ich!« Die Lehrerin winkt ihm auffordernd zu. Darauf hin rennt N. schnell zu seiner Klasse und drängt sich vor die anderen Kinder, was zu Ãrger und auch zu einer Gefahrensituation auf der Treppe zwischen ihm und einigen anderen Kindern führt. Die Lehrerin will ihn an die Hand nehmen, um sein rüpelhaftes Schubsen und Drängeln für die anderen Kinder abzumildern, doch Niklas wehrt sich heftig und läuft einfach weiter.
Vor der Klasse angekommen, wirft er erst einmal seinen Schulranzen in die Mitte des Flures. Die Lehrerin stellt den Ranzen an die Seite, damit die anderen Kinder nicht darüber stolpern und es ihm nicht gleichtun. Während sich alle anderen ausziehen, ihre Jacken aufhängen und die Schuhe ins Regal stellen, steht Niklas daneben und schaut zu. Erst als die meisten Kinder schon in der Klasse sind, zieht auch er seine Jacke aus und wirft sie in Richtung Kleiderhaken.
Dann will er in die Klasse gehen. Da die Lehrerin noch in der Klassentür steht, hält sie ihn mit dem Hinweis zurück, er möge bitte seine Schuhe auch ausziehen. Niklas schreit laut: »Nein!« Daraufhin verweist die Lehrerin auf das gute Beispiel der anderen Kinder und erinnert an die Klassenregel. Erst als Niklas sieht, dass auch seine Freundin Anne die Schuhe auszieht, ist er bereit, dasselbe zu tun (Hausschuhe zieht er aber trotzdem nicht an). Nun darf er den Klassenraum betreten. Er geht aber nicht wie die anderen Kinder zu seinem Platz, sondern rutscht auf den Knien durch den Raum und zieht seinen Schulranzen über den Boden hinter sich her bis zu seinem Einzelplatz. Dort wirft er den Ranzen noch einmal lautstark auf den Boden und setzt sich dann auf seinen Platz.
Nachdem alle Kinder ihre Plätze eingenommen haben, stehen sie auf, um sich einen guten Morgen zu wünschen. Dieses Ritual ist verbunden mit einer kleinen Gymnastikübung. Während alle Kinder mit Blick zur Lehrerin stehen, stellt sich Niklas auf seinen Stuhl mit Blick in die Klasse. Um einen weiteren Eklat zu vermeiden, wechselt die Lehrerin ihren Standort, so dass der Junge nicht mehr im Mittelpunkt steht (Niklas hat bereits seinen Einzelplatz direkt neben dem Pult). Diese Reaktion der Lehrerin hindert ihn jedoch nicht daran, den Guten-Morgen-Gruà zu verändern und lautstark in die Klasse »Arschloch, Wichser« zu brüllen und dies im Rhythmus der Guten-Morgen-GruÃes. Die Lehrerin legt ihm begütigend die Hand auf die Schulter, und er setzt sich wieder hin.
Während der sich anschlieÃenden kurzen Leseübung (Wörter mit dem neuen Buchstaben werden von der Tafel gelesen, und der neue Buchstabe wird an der Tafel nachgesprochen) meldet sich Niklas nicht zum Lesen. Wenn aber ein Kind ein Wort nicht sofort ausspricht oder langsam Buchstabe für Buchstabe liest, schreit Niklas irgendein zuvor gehörtes Wort dazwischen,
was zur
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