Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Verunsicherung mancher Kinder führt. Die Lehrerin bittet ihn, sich auch ein Wort auszusuchen und es an der Tafel zu zeigen. Er erwidert, das zuvor in die Klasse gerufene Wort sei sein Wort und für ihn reserviert. Als er sein Wort vorlesen darf, gelingt es ihm nur mit Hilfe der Lehrerin.
Eine sich anschlieÃende schriftliche Aufgabe wird von ihm erst einmal verweigert. Er könne das nicht, und er mache das auch nicht. Angebotene Hilfe schlägt er in schroffem Ton aus und will sich auf einen Rundgang durch die Klasse machen. Als die Lehrerin auf der Bearbeitung der Aufgabe besteht und ihm das Aufstehen streng verbietet, bleibt Niklas an seinem Tisch sitzen, rutscht aber mit diesem ständig zur Tafel und wieder zurück. Als er damit keine Aufmerksamkeit mehr weckt, schaut er den anderen Kindern eine Weile ruhig beim Arbeiten zu. Dann nimmt er ein mitgebrachtes Vorschullernheft aus seinem Schulranzen und will damit arbeiten. Die Lehrerin schaut sich das Heft an, sucht für ihn passende Seiten und interessante Aufgaben heraus. Niklas schaut sie sich an, weigert sich dann aber, diese zu bearbeiten und erzwingt, sich selbst ausgesuchte Aufgaben zu erledigen.
In der nächsten Stunde geht die Klasse zum Sportunterricht in die Turnhalle. Die Lehrerin hat Stationen zum Springen und Balancieren als Thema der Stunde gewählt. Niklas nimmt normalerweise am Sportunterricht gar nicht teil, sondern versucht sich meist hinter den blauen Sportmatten herumzudrücken bzw. ziel- und planlos durch die Halle zu laufen. Als er beim Gang zu den Umkleidekabinen die aufgebauten Stationen sieht, zieht er sich schnell die Sporthose an und läuft sofort in die Turnhalle. Den Kindern ist der Stationenbetrieb bekannt. Sie dürfen sich die Stationen nach dem Umziehen frei wählen. Niklas sucht sich eine Station zum Springen aus und beginnt auch ohne Probleme. Nach kurzer Zeit beschweren sich ein paar Kinder, weil er sich
immer vordrängt. Die Lehrerin bittet ihn, die Reihenfolge einzuhalten und die unbedingt erforderlichen Sportschuhe anzuziehen. Danach könne er seine Sprungübungen fortsetzen. Niklas ärgert sich darüber so sehr, dass er die Lehrerin mit »Arschloch« beschimpft. Sie nimmt ihn am Arm und geht mit ihm in den Vorraum der Turnhalle. Dort erklärt sie ihm, dass sie sich durch solche Beschimpfungen beleidigt fühlt und sich diesen Ton verbittet. AuÃerdem würde sie ihn ja auch nicht beleidigen. Dann weist sie ihn zum wiederholten Male auf die für ihn gefährliche Situation beim Springen ohne Turnschuhe hin. Er reagiert gar nicht, sondern schaut nur starr und ausdruckslos in die Turnhalle und zu den anderen Kindern.
Wieder zurück in der Klasse, setzt er sich an seinen Einzeltisch und packt sein Frühstück aus. Während er frühstückt, ist er leise. Erst zum Ende hin rülpst er ein paar Mal laut in die Klasse, was von den Kindern schon gar nicht mehr wahrgenommen wird.
Mittags holt die Mutter Niklas ausnahmsweise einmal persönlich ab. Die Lehrerin berichtet ihr kurz von den schwierigen Phasen am Vormittag, die Mutter ist ganz erstaunt von diesem Verhalten, weist aber ihren Sohn zurecht. Niklas hört ihr ohne erkennbare Reaktion zu und schaut dabei den langen Flur entlang.
Solche und ähnliche Situationen und Verhaltensweisen ergeben sich jeden Tag, in jeder Stunde. Es gibt keine besonders guten und keine besonders schlechten Tage. Alle sind irgendwie gleich. Geprägt von Niklas.
Nur: Niklas ist kein Einzelfall. Kinder wie Niklas kommen in nahezu jeder Gruppe, jeder Klasse vor und prägen die Situation heutigen Schulunterrichtes leider in prägnanter Weise.
Kapitel 2
Was mit unseren Kindern los ist - Von Muffins und nicht gemachten Hausaufgaben
Ich arbeite seit über zwanzig Jahren als Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das bedeutet, dass in meiner Praxis täglich Kinder und Jugendliche vorstellig werden, deren Eltern, meist nach reiflicher Ãberlegung, zu dem Schluss gekommen sind, dass bei ihrem Nachwuchs besorgniserregende und behandlungsbedürftige Auffälligkeiten im Verhalten vorliegen. Dabei handelt es sich keineswegs mehrheitlich um Familien aus prekären sozialen Verhältnissen, sondern überwiegend um Angehörige der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht. Die Eltern dieser Kinder lassen das Engagement für das Wohlergehen ihres Nachwuchses keineswegs vermissen, im Gegenteil: Sie sind besorgt, bemüht
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