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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Aufenthalt für menschliche Wesen überhaupt keinen Sinn machte.
    Kylie wollte nur den Mann anschauen. Er war ein Riese, egal was Mommy sagte. Sein Rücken war so breit wie bei einem Stier, seine Hände waren so groß wie Schaufeln. Wenn er sprach, war seine Stimme bis in den hintersten Teil des Flugzeugs zu hören, wie beim Schuldirektor, wenn er über Lautsprecher eine Ansprache hielt. Kylie war in der ersten Klasse und sie ging nicht gerne zur Schule, aber die Stimme dieses großen Mannes machte ihr keine Angst.
    Wenn er böse oder furchteinflößend wäre, hätte sich das kleine Mädchen nicht so nahe an ihn herangetraut, oder? Sie war weiß und durchscheinend, wie alle Engel, die Kylie sah. Ihre Flügel schimmerten wie Seide. Sie schwebte um den Kopf des Mannes, so wie die Kolibris eine Blüte voller Nektar umkreisen. Sie hatte einen Schmollmund und ihre Arme waren ausgestreckt. Immer wenn sich eine Gelegenheit bot, drehte sie sich zu Kylie um, machte ihr Zeichen zu kommen und ihrem Vater zu sagen, er solle stillhalten, damit sie ihm einen Kuss geben konnte.
    »Ich kann nicht kommen. Meine Mutter lässt mich nicht.« Kylie bewegte lautlos die Lippen.
    »Ich brauche dich«, rief der kleine Engel. »Du weißt, wie das ist, wenn man seinem Vater einen Kuss geben möchte und nicht kann.«
    »Mein Vater liebt mich nicht. Deiner schon, aber du bist tot. Wir beide sind grundverschieden, ich kann dir nicht helfen.«
    »Doch, doch«, beteuerte der Engel flehentlich.
    »Mein Vater liebt mich nicht«, sagte Kylie abermals. Sie erinnerte sich nicht an ihren Vater. Mommy hatte gesagt, er sei weggegangen, bevor sie geboren wurde. Aber Kylie war sicher, dass er mit ihr gespielt und sie mit Schokoladeneis gefüttert hatte. Sie träumte, dass er groß und stark war, dass er eine tiefe Stimme hatte, gerne sang und alles reparieren konnte. Kylie wünschte sich, er möge endlich nach Hause kommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum ihr Vater aufgehört hatte, sie lieb zu haben, und einfach weggegangen war, und bei dem Gedanken tat ihr der Bauch so weh, dass sie die Luft anhalten musste.
    Kylie starrte den Riesen-Vater an. Obwohl er so groß war, sah er sehr gut aus. Er hatte widerspenstige braungraue Haare, blaue Augen und einen derart traurigen Blick, dass sich Kylie wunderte, warum die Leute jedes Mal lachten, wenn er den Mund aufmachte. Die Stewardess lachte, die anderen Eishockeyspieler lachten, und die hübsche blonde Frau mit den glänzenden schwarzen Strümpfen lachte.
    »Wenn du mir nicht hilfst, verschwinde ich«, rief der Engel warnend. »Dann rede ich kein Wort mehr mit dir.«
    »Es gibt außer dir noch andere Engel.«
    »Aber ich muss dir etwas ganz, ganz Gutes erzählen … hilf mir, sonst bin ich weg. Das ist mein Ernst …«
    »Ich weiß doch überhaupt nicht, wie.«
    »Hör auf zu reden, Kylie«, bat Kylies Mutter flehentlich. »Bitte Liebes, es ist niemand da.«
    »Doch, Mommy«, flüsterte Kylie.
    Doch als sie wieder hinsah, war der kleine Engel verschwunden. Stattdessen blickte der Mann sie durch den Spalt im Vorhang an. Kylie hätte beinahe einen Schrecken bekommen: Seine Augen waren so groß und sahen genauso aus wie die des Engels. Ihre Mutter blickte den Mann stirnrunzelnd an. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund lächelte der Mann plötzlich.
    Kylie blickte zum Fenster hinaus. Nebelfetzen verhüllten stellenweise den Boden, deshalb wusste sie, dass sie sich dem Meer und ihrem Zuhause näherten. In eben diesem Augenblick hörte sie das Schnalzen. Es klang, als wenn Schuljungen ihre Finger in den Mund stecken und die Backen aufblasen. Die Gespräche verstummten eine Sekunde lang, dann wurden sie fortgesetzt. Das Licht im Flugzeug flackerte ein Mal kurz auf, aber niemand schien es zu bemerken. Die Maschine flog einfach weiter, mit dröhnenden Motoren.
    »Es wird aber niemand verletzt, oder?«, fragte Kylie ihre Mutter.
    Mommy kniff die Augen zusammen. Sie sah Kylie lange an, den Kopf zur Seite geneigt. Ihre Augenbrauen rutschten näher zusammen, wobei eine kleine Sorgenfalte zwischen ihnen entstand.
    »Bei der Bruchlandung, meine ich«, sagte Kylie.
    »Kylie, hör auf!«
    Kylie hatte im Fernsehen gesehen, wie Flugzeuge abstürzten, mit Feuer und Rauch und schreienden Menschen. Wenn sie die Augen schloss, hatte sie das Bild deutlich vor sich: Alle Passagiere auf diesem Flug würden sich in den Armen liegen, nach ihren Mommys und Daddys rufen und sich wünschen, es möge ein Wunder geschehen und das

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