Was allein das Herz erkennt (German Edition)
verhaltensgestört, sondern mit einer besonderen Gabe geboren, wenn sie Dr. Whitpen Glauben schenken durfte. May hatte die Anweisung erhalten, die Visionen ihrer Tochter in einem Traumtagebuch aufzuzeichnen; es war ein blaues Notizbuch, in das sie alles eintrug, was Kylie ihr erzählte und was sie selbst an Einzelheiten beobachtete.
Im Augenblick musterte Kylie die Männer vor ihr mit wachsender Intensität und ihre Augen nahmen einen Ausdruck an, den May das ›Glühen‹ nannte. Sie sah offenbar etwas, was anderen verborgen blieb. Dabei biss sie sich auf die Lippen, um nicht damit herauszuplatzen. Ihre Blicke wanderten zwischen der Business Class und May hin und her. Kylie war klein und zart für eine Sechsjährige. Das dunkle Haar fiel in Wellen auf ihre Schultern und die samtbraunen Augen in ihrem cremeweißen Gesicht leuchteten, als würden sie inwendig vom sanften Schein einer Kerze erhellt.
»Lass das, Kylie«, sagte May mahnend.
»Aber –«
»Ich bin müde«, unterbrach May sie. »Schau woanders hin. Oder male ein schönes Bild. Komm, wir tauschen den Platz, dann kannst du am Fenster sitzen.«
Kylie schüttelte den Kopf, glitt tiefer in ihren Sitz und erschauerte. Sie sah angestrengt nach vorne, auf die großen Männer, und ihre Augenbrauen bildeten eine Linie, während sie sich mit aller Macht konzentrierte.
»Er ist winzig«, sagte sie stirnrunzelnd und verschränkte die Hände in ihrem Schoß.
»Kylie –«
Als hätte er ihren eindringlichen Blick gespürt, spähte einer der Eishockeyspieler über seine Schulter nach hinten. Er saß am Gang, und als er sich umdrehte, entdeckte May ein mutwilliges Funkeln in seinen graublauen Augen. Eine Stewardess trat vor, um den Vorhang zu schließen. Obwohl die Sicht nun versperrt war, wurden ihre Unterhaltung und das Gelächter durch nichts gedämpft und waren genauso laut zu hören wie vorher. Kylie starrte auf den Vorhang, als besäße sie Röntgenaugen, die das Gewebe durchdringen konnten.
»Das ist mal wieder typisch«, kam eine verärgerte Stimme aus der Reihe hinter ihnen. »Kaum sitzen die Boston Bruins im Flugzeug, lösen sich die Stewardessen in Luft auf.«
»Die Bruins werden die Playoffs sowieso vermasseln«, sagte ein anderer. »Die Maple Leafs werden ihnen heute Abend eins überbraten, und dann sind sie raus aus der Endrunde.«
»Auf Eishockey kann ich locker verzichten«, erklärte eine Frau lachend. »Mir würde Martin Cartier genügen.«
»Auf den kann ich gut und gerne verzichten«, erwiderte ein Mann grollend. »Ich brauche nur einen Drink.«
Kylie schien die Unterhaltung ringsum nicht wahrzunehmen. Zwischen ihrer Mutter und dem Fremden am Gang sitzend, wurde sie von Minute zu Minute blasser. May verstaute die Papiere und ihr Tagebuch in einem Ordner und klappte den Tisch herunter. Ihr Herz war schwer, sie verspürte ein Engegefühl in der Brust. Sie sah, wie Kylie den Vorhang fixierte und ihr Mund lautlos Worte formte.
»Komm, lass uns die Plätze tauschen, Liebes.« May löste ihren und Kylies Sicherheitsgurt. »Dort unten ist Frühling und man kann das neue Grün erkennen. Siehst du die Felder? Und die Bäume? Wir müssen inzwischen schon über Massachusetts sein. Vielleicht kannst du sie ja zählen –« Sie hob Kylie hoch und schnallte sie auf dem Fensterplatz an. Kylies Haut fühlte sich klamm an und Mays Herz klopfte zum Zerspringen. Der Geschäftsmann seufzte unwillig, als May seinen Aktenkoffer mit dem Fuß aus dem Weg schob.
»Sie möchte ihren Daddy wiederhaben, Mom«, flüsterte Kylie und umklammerte Mays Handgelenk. »Sie möchte ihm einen Kuss geben.«
»Zähl die Scheunen«, sagte May flehentlich, deutete aus dem Fenster und versuchte krampfhaft etwas zu finden, womit sie Kylie beschäftigen konnte, um sie von ihren Halluzinationen abzulenken.
»Oh nein, sie wird weggehen«, sagte Kylie betrübt. Sie schluckte und blickte May an. May sah, dass sie sich zwang zu gehorchen, die Vision oder was immer es war zu verscheuchen und sich wie jedes andere Kind zu verhalten: Scheunen zählen, das ABC aufsagen, die Gipfel der Berkshires betrachten oder bitten, zur Toilette gebracht zu werden.
Kylie war vier gewesen, als sie zum ersten Mal Engel gesehen hatte. Sie ging in den Kindergarten, und ihr war bewusst geworden, dass sie als Einzige keinen Vater hatte. Einen Monat später war ihre heiß geliebte Urgroßmutter, Mays Großmutter Emily, an einem Herzanfall gestorben. Und dann, an einem Herbsttag, waren sie bei einer
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