Was danach geschah
oder Haar oder an die Art, wie sie kicherte oder weinte, noch an den Geruch ihrer Haut oder wie sie sich wand, wenn ich sie hielt. Ich erinnerte mich nur, dass ein Kind in mir gewachsen und Teil von mir geworden war und mich dann verlassen hatte, um Teil der Welt um mich herum zu werden – in der ich sie sehen und berühren, aber nicht in der Weise schützen konnte, wie ich es getan hatte, solange sie noch in mir gewesen war. Dass ich mich aber nur an den Namen meiner Tochter erinnerte, bereitete mir überhaupt keine Sorgen. Dort auf der Bank im Bahnhof von Schemaja sitzend, sorgte ich mich mehr um die Flecken auf meiner Jacke und befürchtete, dass jemand sehen könnte, was mit meinem schwarzen »Ich gehöre dazu«-Seidenkostüm geschehen war.
Ich kratzte kräftiger an den Flecken, doch sie ließen sich nicht entfernen. Also leckte ich mir über die Fingerspitzen. Plötzlich wurden die Flecken größer, änderten ihre Farbe von gelblich weiß zu einem dunklen Weinrot.
Das Kostüm ist schlecht gefärbt … deswegen war es heruntergesetzt.
Doch auch die Form der Flecken veränderte sich. Sie wurden flüssig, liefen in roten Streifen an meiner Jacke, meinem Rock, meinen Beinen hinab. Faszinierend. Ich tupfte mit den Fingern auf die rote Flüssigkeit, vorsichtig zunächst, wie ein Kind, dem man einen Farbtopf in die Hand gedrückt hat, dann beherzter. Ich malte mit der Flüssigkeit zwei Strichfiguren neben mir auf die Bank – eine Mutter und ihre kleine Tochter. Die Flüssigkeit war warm und klebrig und schmeckte angenehm salzig, als ich einen Finger vorsichtig ableckte. Auf dem Boden vor mir sammelte sich eine Pfütze. Ich zog meine Stöckelschuhe aus, und fasziniert von dem samtigen Gefühl strich ich mit den Zehen darüber.
Und während ich so vor mich hin spielte, trat ein Mann an meine Bank und setzte sich neben mich.
»Willkommen in Schemaja«, begrüßte er mich. »Ich heiße Luas.«
Luas’ graue Augen waren feucht, als würde er ständig an etwas Ergreifendes denken. Sein auffälliges und freundliches Gesicht, das schlaff war und an einen Frosch erinnerte, strahlte Weisheit aus wie ein abgenutztes Buch. Es kam mir vertraut vor, und nach einer Weile erkannte ich es als das Gesicht meines Mentors, des Anwalts, der mich gleich nach meinem Jurastudium eingestellt hatte.
Wie hieß er doch gleich? Ach ja, Bill, Bill Gwynne. Doch der alte Mann neben mir sagte, er heiße Luas, nicht Bill.
Luas heißt jeden in Schemaja willkommen. Jedem erscheint er anders, und jedem auf seine eigene Art – dem einen als Automechaniker oder Lehrer, dem anderen als Geistlicher oder Prediger oder gar als Wahnsinniger oder als Kombination aus allem. In Schemaja verkleiden wir den anderen so, dass er genau so aussieht, wie wir es von ihm erwarten. Für mich war Luas eine Kombination aus drei älteren Männern, die ich in meinem Leben bewundert hatte. Er trug ein weißes Hemd mit Tweedblazer, der, genau wie bei meinem Großvater Cuttler, nach Pfeifentabak mit Rumaroma roch; und er hatte, wie gesagt, Bill Gwynnes schlaffes Gesicht; doch als ich ihm hilflos wie ein Mädchen, das mit ihren Spaghetti spielt, meine rotgefärbten Füße und linke Hand zeigte, grinste er mich wissend an wie Opa Bellini, als wollte er sagen: Ja, mein Enkeltöchterchen, ich kann es sehen; ich kann sehen, wovor du aus Angst die Augen verschließt, aber ich werde so tun, als hätte ich es nicht bemerkt.
»Komm mit, Brek«, forderte Luas mich auf. »Wir machen dich wieder sauber.«
Woher kennt er meinen Namen?
Wieder blickte ich nach unten, doch jetzt waren meine Kleider fort – mein schwarzes Seidenkostüm und die cremefarbene Seidenbluse, mein BH, mein Slip, die Strumpfhose und die Schuhe. Eigentlich waren sie nie da gewesen. Es hatte nur die Vorstellung von Kleidern gegeben, so wie ich nur eine Vorstellung derjenigen Person war, die ich während meines 31-jährigen Lebens hatte sein wollen. Nur mein Körper blieb, nackt und blutüberströmt. Ich wusste jetzt, dass die rote Flüssigkeit Blut und dass es mein Blut war, weil es durch drei kleine Löcher aus meinem Oberkörper sprudelte und sich warm und kostbar anfühlte, wie es nur Blut tut. Plötzlich veränderte sich meine Perspektive, und es schien, als würde ich die Szene von der gegenüberliegenden Bank aus beobachten.
Wer ist diese Frau? , fragte ich mich. Warum steckt sie nicht ihre Finger in die Löcher, um die Blutung zu stoppen? Warum ruft sie nicht nach Hilfe? Sie ist so jung und hübsch,
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