Was danach geschah
zu erinnern. Irgendwie erinnere ich mich nicht an dein Gesicht, Nana. Ich war zu jung, als du starbst.«
Nana lächelte mich vergnügt an.
»Oje, das ist aber ein langer Traum«, stellte ich fest und reckte mich und gähnte. »Ich habe das Gefühl, als würde ich schon die ganze Nacht lang träumen. Aber das ist gut. Das heißt, ich schlafe tief und fest. Ich bin so müde, Nana. Ich möchte noch ein bisschen weiterschlafen, aber keine Angst mehr haben. Ich möchte, dass dieser Traum schön wird. Können wir einen schönen Traum daraus machen, damit ich nicht aufwachen und dich verscheuchen muss?«
»Ja, mein Schatz.« Wieder umarmte mich Nana. »Wir können einen schönen Traum daraus machen. Den schönsten, den du je hattest.«
Wortlos führte sie mich die Treppe hinauf, ließ mir in einer klauenfüßigen Eisenwanne ein Bad ein und hängte einen dicken Frotteebademantel an die Tür. Schon jetzt wurde der Traum besser. Bevor sie mich in die Wanne steigen ließ, blieb sie stehen und blickte auf den Stumpf meines rechten Arms. Ich lächelte, wie immer, wenn jemand dorthin sah, um ihr das unangenehme Gefühl zu nehmen. Sie küsste mich auf die Stirn und schloss die Tür.
Obwohl die Wunden nicht mehr bluteten, färbte sich das Wasser rot, und ich musste zweimal frisches Wasser einlassen. In meinem Oberkörper befanden sich drei Löcher: eins in meinem Brustbein, zwei in meiner linken Brust. Gleichgültig betastete ich die Löcher wie drei gewöhnliche Flecken. Unter meinem Finger spürte ich das weiche, zerrissene und geschwollene Gewebe und die zackigen Kanten von gesplitterten Knochen.
Nach meinem Bad schlüpfte ich in den Bademantel, den Nana für mich an die Tür gehängt hatte, schlich durchs obere Stockwerk des alten Hauses und ließ sowohl angenehme als auch traurige Erinnerungen in mir aufsteigen. Im Schlafzimmer von Nana und Urgroßvater Frank hing das Foto der beiden, auf dem sie an ihrem dreißigsten Hochzeitstag glücklich vor der Mailänder Scala posierten. Einen Monat später, hatte mir meine Mutter erzählt, habe Urgroßvater Frank auf einer Geschäftsreise in Mailand seine Geliebte genau in diese Oper ausgeführt. Nana hatte die Erniedrigung und ihre Wut irgendwie verwunden und ihm die Vergebung gewährt, nach der er sich gesehnt hatte. Im Gegenzug dazu hatte Urgroßvater Frank an der Wand zwischen den Fenstern ein großes Kruzifix mit einem großen Christus aufgehängt, dessen traurige Augen wie zur Mahnung auf Urgroßvater Franks Seite des Bettes gerichtet waren. Im Jahr darauf war er an einem Herzinfarkt gestorben.
Nach Nanas Tod waren meine Großeltern in das Haus gezogen und hatten es mit ihrem Hab und Gut angefüllt, doch das Kruzifix war geblieben – wachsam, aufmerksam, mahnend. Ich erinnerte mich an das Haus als das ihre, nicht als das von Nana. Unter dem Kreuz stand ein kleines Regal mit gebundenen Büchern von Locke, Jefferson und Oliver Wendell Holmes sowie unbedeutendere Abhandlungen über Vertrags- und Verfahrensrecht. Es waren die schweren juristischen Bücher meines Großvaters, deren Ledereinbände ich mir nach dem Unfall mit meinem Arm und dem folgenden Prozess mit Ehrfurcht und Verehrung angesehen hatte. Das Streben nach Gerechtigkeit erschien mir als Religion edler und ehrlicher zu sein als diejenige, die jeden Sonntag in der Kirche gepredigt wurde.
Das Zimmer meines Onkels Anthony nebenan war eine auf das Jahr 1968, dem Jahr nach Nanas Tod, versiegelte Zeitkapsel. Auf einigen der Schwarzweißfotos an den Wänden lehnt er gegen eine Haubitze, sein von Angst und Müdigkeit gezeichnetes Gesicht zu einem gequälten Lächeln verzogen. Erkennungsmarken und ein Kruzifix, bei dem der rechte Arm abgebrochen ist, hängen an einer Kette um seinen Hals. Das einzige Farbfoto im Zimmer war zwei Jahre zuvor aufgenommen worden. Darauf steht der stattliche, tapfere Oberstleutnant Anthony Bellini in Paradeuniform neben einer amerikanischen Flagge. Meine Großeltern hatten das Bild auf der Kommode neben den Erkennungsmarken, dem zerbrochenen Kruzifix und dem traurig blauen Stoffdreieck stehen lassen, Dinge, die ihnen bei Onkel Anthonys Beerdigung überreicht worden waren. Ich liebte dieses zerbrochene Kruzifix. Jesus fehlte derselbe Arm wie mir, und wenn ich es berührte, fühlte ich mich irgendwie verstanden. An Onkel Anthony erinnerte ich mich nicht mehr. Er war kurz nach meiner Geburt nach Vietnam geschickt worden. Als ich mich nach ihm erkundigt hatte, war mir nur gesagt worden, er sei als
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