Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
sie’s zum fünfzehnten Geburtstag bekommen hat. Erinnerst du dich?«
»Ja, natürlich erinnere ich mich, aber diese falsche Katze hat sich nicht näher als zehn Meter rangetraut. Sie weiß nicht mal mehr, dass es Rex gibt.«
»Manchmal bereue ich es, zugelassen zu haben, dass du dich so in ein Tier vernarrst, das dir nicht gehört. Und was, wenn der Patrón beschließt, es zu verkaufen?«
Aber Francesca hörte ihm nicht mehr zu. Sie rannte das letzte Stück und sprang leichtfüßig über das Gatter. Als sie ihr Pferd in der Herde entdeckte – es war das einzig völlig Schwarze –, blieb sie einen Augenblick stehen, um sich an seiner stolzen, eindrucksvollen Gestalt zu erfreuen. Dann rief sie nach ihm. Rex hatte sie schon gewittert. Als er nun ihre Stimme hörte, begann er mit den Hufen zu scharren und unruhig zu tänzeln. Die übrige Herde stob erschreckt davon, und der Hengst blieb allein auf der Koppel zurück.
»Hör auf mit diesem Theater und komm her. Ich würde dich gerne von nahem sehen«, schalt ihn Francesca.
Das Pferd kam wiehernd angetrabt und senkte den Kopf. Nachdem Francesca es eine Zeitlang gestreichelt hatte, beschloss sie, aufzusitzen.
»Warte wenigstens, bis ich dir den Sattel bringe!«, rief Cívico vom Gatter aus.
»Ich reite ihn so!«, lautete die Antwort des Mädchens, das sich geschickt aufs Pferd schwang, ihm in die Mähne fasste und ehe Cívico etwas sagen konnte in einer donnernden Staubwolke verschwand.
***
Der Abend färbte den Himmel rot und violett. Francesca lag im Gras, den Kopf in die Hände gestützt. Nicht weit von ihr graste Rex. Der Gesang von Bentevis und Trauertyrannen und das Zirpen der ersten nächtlichen Insekten waren zu hören. Die kühle Luft war von Düften geschwängert, die sie nur mit Arroyo Seco in Verbindung brachte. Nur unwillig stand sie auf. Sie musste nach Hause, sonst würde ihre Mutter sich Sorgen machen. Außerdem hatte sie ihr versprochen, beim Abendessen zu helfen, denn es wurden einige Gäste erwartet.
»Komm, Rex, wir müssen heim.«
Sie brachte das Pferd auf die Koppel und schlenderte lustlos in Richtung Haupthaus. Bei den Pappeln blieb sie stehen und blickte in die weite Landschaft. Obwohl sie dieses Schauspiel schon so oft beobachtet hatte, war sie auch diesmal überrascht, dass die Sonne, die eben noch rund und strahlend hell am Himmel gestanden hatte, nun als schwacher Widerschein hinter den blauen Bergen erlosch. Wann war sie untergegangen? Der Tag schwand unvermutet schnell, und diese Endlichkeit bedrückte sie. »Die Sonne versteckt sich, mein Schatz, weil sie dem Mond nicht begegnen will.«
Niemals würde sie die Stimme ihres Vaters vergessen, wenn sie samstagnachmittags Hand in Hand auf dem Aussichtsturm im Sarmiento-Park gestanden und den Sonnenuntergang betrachtet hatten.
»Wann bist du gegangen, Papa?«, fragte sie sich.
Motorengeräusche rissen sie aus ihren Gedanken. Sie wischte sich die Tränen ab. Es gelang ihr noch, sich hinter einer Pappel zu verstecken, bevor ein Sportwagen in einer Staubwolke an ihr vorbeiraste. Sie konnte drei Insassen erkennen: den jungen Herrn Aldo und zwei Frauen. Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern und ging weiter. Es war das erste Mal seit langem, dass sie Aldo Martínez Olazábal sah. Vor zehn Jahren war er nach Frankreich gegangen, um an der Sorbonne zu studieren. Francesca dachte spöttisch, dass er der wohl begehrteste Junggeselle in der ganzen Provinz Córdoba war: reich, aus gutem Haus, mit einem Titel unterm Arm und dem Ansehen derer, die aus dem Ausland zurückgekehrt waren.
Nach wie vor in Gedanken versunken, lief sie weiter. Sie überlegte, dass sie jetzt, da sie für die Zeitung ihres Onkels arbeitete, ein bisschen Geld zurücklegen konnte, um unabhängig zu sein und ihre Mutter von den Martínez Olazábals zu sich zu holen. Aber man musste realistisch sein: Es würde nicht einfach werden, sie von hier wegzubringen, vor allem wegen der Freundschaften, die sie mit dem übrigen Personal geschlossen hatte, insbesondere mit Rosalía. Tatsächlich schien sie gerne in diesem herrschaftlichen Haus zu leben. Vielleicht würde sie alleine weggehen, überlegte Francesca, aber in tausend Jahren würde sie Sofía nicht allein hier zurücklassen, die so verletzlich und schutzlos war. Sie würde sie mitnehmen, nahm sie sich vor.
Als sie durch das Tor kam, das zum Haupthaus führte, sah sie die Familie Martínez Olazábal auf der umlaufenden Veranda, die das alte Herrenhaus umgab: Señora
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